ein Beitrag von Rechtsreferendar Lukas Nolzen und Rechtsanwalt Christoph Grabitz
Das Streben nach Freiheit ist untrennbar mit der Menschenwürde verknüpft, so will es unser Grundgesetz. Anders als in den meisten Ländern der Welt ist ein Ausbruch aus dem Gefängnis deshalb hierzulande nicht strafbar. Um aber tatsächlich straflos davonzukommen, müssen Ausbruchswillige ein paar wichtige Grundregeln beachten.
Gefängnisausbruch im Dezember 2022
Der Attentäter von Halle, Stephan B., hat gezeigt, wie man es nicht macht: Im Dezember 2022 brachte der zu lebenslanger Haft nebst anschließender Sicherungsverwahrung Verurteilte zwei JVA-Beamte mit einer improvisierten Waffe in seine Gewalt. Er zwang sie dazu, ihm mehrere Türen aufzuschließen, bevor er von mehreren JVA-Beamten überwältigt werden konnte. Sein Freiheitsdrang ist hoch. Er war zuvor bereits bei einem Hofgang über einen 3,40 Meter hohen Zaun geklettert. Wer aber Gewalt anwendet bei einer Flucht, hier ist das Gesetz eindeutig, der kann sich später nicht auf den Freiheitsdrang eines jeden Menschen berufen.
Der Grundsatz: Ausbrechen und Fliehen sind erlaubt
Das deutsche Strafrecht kennt kein grundsätzliches Verbot eines Ausbruchs aus dem Gefängnis. Das Strafgesetzbuch enthält lediglich zwei Paragrafen, die sich dem Gefängnisausbruch widmen:
- § 120 StGB bestraft denjenigen, der anderen bei einem Ausbruch hilft, nicht aber den Ausbrechenden selbst.
- § 121 StGB stellt es unter Strafe, wenn mehrere Gefangene sich zu einer „Gefangenenmeuterei zusammenrotten“.
Wer einfach seine Beine in die Hand nimmt und wegläuft, hat nichts zu befürchten. Auch die Flucht vor der Polizei ist im Grundsatz erlaubt. Mit dieser Rechtslage unterscheidet sich Deutschland grundlegend von anderen Ländern: So ist die Flucht aus der Haft beispielsweise in Kanada und Russland strafbar und kann zu einer eigenen Strafe oder einer Verlängerung der bestehenden Haftstrafe führen. Wer hinter Schloss und Riegel sitzt, hat sich zu fügen. Selbst in den USA, dem „Land of the free“, wo die Freiheit das Fundament des kollektiven Selbstverständnisses ist, ist ein Gefängnisausbruch strafbar.
Der Wille zur Freiheit als Grund für die Straflosigkeit
Dass der (Bewegungs-) Freiheit hierzulande ein so großer Stellenwert eingeräumt wird, hat etwas mit der Aufklärung und dem Menschenbild Immanuel Kants zu tun. Für Kant bildete die Freiheit des Menschen das eigentliche Fundament seiner menschlichen Würde, die Fähigkeit zu vernunftsgesteuertem Handeln, die den Menschen vom Tier unterscheidet. Indem sie den Gefängnisausbruch nicht unter Strafe stellt, erkennt unsere Rechtsordnung an, dass ein jeder Mensch grundsätzlich frei sein möchte – und auch stets danach streben wird, seinen Freiheitsdrang in die Tat umzusetzen.
Das Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit ist in unserem Grundgesetz gleich hinter der Menschenwürde angesiedelt, in Art. 2 Abs. 1 GG. Würde man den Ausbruch unter Strafe stellen, so die Überlegung unseres Gesetzgebers, stünde dies im Widerspruch zur Natur des Menschen. Das Streben nach Freiheit ist im Gegensatz zum Willen zum Stehlen, Betrügen oder Töten eben nicht verwerflich und wird von jeder Person geteilt. (Bedauerlich ist nur, dass diese Erkenntnis bislang nicht dazu geführt hat, den Strafvollzug in Gänze abzuschaffen.)
Eine straffreie Flucht zu bewerkstelligen, ist nicht leicht
Eine wesentliche Eigenschaft der Grundrechte ist allerdings, dass sie ihre Grenzen in den Rechten anderer Personen finden. Hier wirkt sich der kategorische Imperativ Immanuel Kants aus. Und hier wird die Sache mit Blick auf den Gefängnisausbruch ernüchternd: Denn ein Ausbruch ist nur so lange straffrei wie dabei keine anderen Rechtsgüter verletzt werden. Geschützt ist, mithin, nur die Flucht auf leisesten Sohlen, die niemanden und nichts beeinträchtigt oder belästigt.
Unter dieser Prämisse ist es fast undenkbar, straffrei aus einem Gefängnis herauszukommen: Der Gefangene, der die Gitterstäbe seiner Zelle oder einen Zaun zersägt, begeht eine Sachbeschädigung (§ 303 StGB). Befreit er sich, indem er die Wärter angreift, macht er sich der Körperverletzung (§ 223 StGB) schuldig. Nimmt er die Wärter gleich mit auf seinem Weg nach draußen, käme eine Geiselnahme in Betracht (§ 239b StGB). Selbst wenn ihm eine Flucht ohne Beschädigung von Sachen oder der Verletzung von Personen gelänge, müsste er diese wohl unbekleidet unternehmen, da er ansonsten die Bekleidung des Gefängnisses stehlen würde (§ 242 StGB).
Keine Strafe, wohl aber gefängnisinterne Konsequenzen
Hinzu kommen gefängnisinterne Konsequenzen, die keine Strafen im engeren Sinne sind, sich aber genauso auswirken: Wer nach einem Gefängnisausbruch wieder hinter Schloss und Riegel gebracht wird, muss mit Verschärfungen der Haftbedingungen rechnen. Diese reichen von Verlegungen, über weniger Besuchsrechte bis hin zur Isolation. Zudem werden Privilegien wie Freigang oder vorzeitige Haftentlassung äußert unwahrscheinlich. Rechtlich sind dies keine Strafen, da sie weitere Fluchtversuche verhindern und nicht vergangene Missetaten vergelten sollen.
Bei der Flucht vor der Polizei ergibt sich dieselbe Problematik: Wer einfach wegläuft, ist straffrei. Wer dabei aber beispielsweise einen Polizisten zur Seite schubst oder mit seinem Fahrzeug zu schnell oder gefährdend fährt, macht sich strafbar. Besonders in Fällen des Widerstandes gegen Vollstreckungsbeamte (§ 113 StGB) sind die Grenzen zwischen Fliehen (straffrei) und aktivem Widerstand (strafbar) oft nur schwer zu bestimmen.
Stephan B: Kein gutes Beispiel für einen straffreien Gefängnisausbruch
Im Falle des Attentäters von Halle, Stephan B., ist das Ergebnis eindeutig. Sein Angriff auf die Bediensteten erfüllt gleich mehrere Straftatbestände. Nach den ersten Berichten kommen Geiselnahme (§ 239b StGB), Nötigung (§ 240 StGB), Bedrohung (§ 241 StGB), Widerstand und Angriff auf Vollstreckungsbeamte (§§ 113, 114 StGB), vielleicht auch Körperverletzung (§ 223 StGB) in Betracht.
Fazit Gefängnisausbruch: Fliehen und Flüchten in der Praxis
Wie man die Sache angehen kann, ohne mit dem Gesetz in Konflikt zu kommen, hat jüngst ein 64-jähriger Sicherungsverwahrter aus Brandenburg gezeigt. Die Sicherungsverwahrung schließt sich an die vollständige Verbüßung einer Haftstrafe an. Sie dient ausschließlich dem Schutz der Bevölkerung vor weiteren Straftaten und muss sich deshalb von einer Haftstrafe unterscheiden. Deshalb haben Sicherungsverwahrte Anspruch auf Ausgang aus dem Gefängnis, freilich in Begleitung von JVA-Bediensteten. Der 64-Jährige musste keinen Widerstand umgehen. Er kehrte einfach von einem Toilettengang in einem Einkaufszentrum in Berlin nicht zurück. Da der Ausgang in der Sicherungsverwahrung in ziviler Kleidung zu erfolgen hat, wird in diesem Fall noch nicht einmal ein Diebstahl (an der Häftlingskleidung) verwirklicht worden sein.
Hilfe bei Gefängnisausbruch: So können wir Ihnen helfen
Sind Sie vor der Polizei oder gar aus dem Gefängnis geflohen und haben dabei möglicherweise eine Grenze überschritten? Wird Ihnen der Vorwurf des Widerstandes oder tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte gemacht? Zögern Sie nicht, uns zu kontaktieren: Wir von H/T Defensio sind auf sämtliche Bereiche des Strafrechts spezialisiert und stehen Ihnen bundesweit als verlässliche Ansprechpartner zur Seite. Vereinbaren Sie einen Online-Termin oder besuchen Sie uns an einem unserer Standorte in Hamburg, Lüneburg, Kiel, Lübeck, Bremen, Hannover, Osnabrück, Dortmund, Köln, Bonn, Münster, Düsseldorf – und neuerdings auch Frankfurt am Main.