ein Blogbeitrag von Rechtsreferendar Dominik Tomaszewski
Der Bundesgerichtshof (BGH) hat sich erstmals in einem Beschluss zum sog. „Stealthing“ geäußert. Was anfangs teilweise als nicht strafbar angesehen wurde, könnte nun mit einer Mindestfreiheitsstrafe von zwei Jahren abgeurteilt werden.
Was ist Stealthing?
Zieht der Mann das Kondom vor oder bei dem ansonsten einvernehmlichen Sex heimlich ab, stellt dies einen sexuellen Übergriff im Sinne des § 177 Abs. 1 StGB dar. Dies ist mittlerweile gefestigte Rechtsprechung. Auch wenn das Amtsgericht Kiel jenes Verhalten im Jahre 2020 als straffrei gewertet hat, (Urt. v. 17. November 2020, Az. 38 Ds 559 Js 11670/18), wurde jene Einschätzung vom Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgericht aufgehoben (Urt. v. 19. März 2021, Az. 2 OLG 4 Ss 13/21).
Das Oberlandesgericht vertritt die Auffassung, dass „Geschlechtsverkehr ohne Kondom […] sich von Geschlechtsverkehr mit Kondom wesentlich [unterscheidet] und daher eine eigenständige sexuelle Handlung im Sinne des § 177 Abs. 1 StGB [ist].“
Auch das Kammergericht in Berlin sieht jenes Verhalten als strafbaren sexuellen Übergriff an (KG, Beschluss vom 27.07.2020 – 4 Ss 58/20).
Der Bundesgerichtshof will sich an der Debatte beteiligen – und bleibt unkonkret
Das höchste Gericht in Deutschland hatte die Möglichkeit, sich zum rechtlichen Diskurs zu äußern. Es musste über eine Revision eines Angeklagten entscheiden, der vor dem Landgericht Düsseldorf aufgrund mehrerer Taten zu einer insgesamt dreijährigen Freiheitsstrafe verurteilt worden war. Bei einer der Taten ging es auch um Stealthing. Der BGH stellte fest, dass es sich bei Stealthing um einen sexuellen Übergriff handelt. Dies war in jener Hinsicht zu erwarten und bringt nun Rechtssicherheit.
Als Überraschung kam hinzu, dass „grundsätzlich auch die Verwirklichung des Regelbeispiels des § 177 Abs. 6 S. 2 Nr. 1 StGB in Betracht kommt.“
In jenem Paragrafen steht, dass u.a. ein sexueller Übergriff einen besonders schweren Fall, namentlich eine Vergewaltigung, darstellen kann, wenn der Täter bei dem sexuellen Übergriff den Beischlaf mit dem Opfer vollzieht. Dies ist bei der Definition des Stealthing immer der Fall, da Täter und Opfer Geschlechtsverkehr haben.
Jedoch schreibt der Paragraf auch vor, dass eine Vergewaltigung in der Regel anzunehmen ist. Regelbeispiele zeichnen sich dadurch aus, dass sie – auch wenn die Voraussetzungen ihrem Wortlaut nach erfüllt sind – vom Tatrichter abgelehnt werden können.
Der BGH hat mit seiner oben genannten Formulierung nur die Gesetzessystematik wiedergegeben, ohne für oder gegen eine Regelwirkung zu argumentieren. Dies ist insbesondere für Beschuldigte ein harter Schlag. Es wäre an der Zeit gewesen, eine Regelwirkung in Stealthing-Fällen von oben herab abzulehnen und jene Erkenntnis den Instanzgerichten mitzugeben. Eine verpasste Chance.
Argumente gegen die Regelwirkung
Erfreulicherweise waren die Gerichte bei der Annahme der Regelwirkung der Vergewaltigung bisher zurückhaltend – und das mit guten Gründen:
Als Vergewaltigung wird im allgemeinen Sprachgebrauch und in den Augen der Öffentlichkeit ein Gewaltakt verstanden; etwas, was dem Opfer an sich nicht gefällt und ihm möglicherweise Schmerzen bereitet. In Stealthing-Fällen ist das Opfer mit der Penetration an sich einverstanden; von Gewalt im herkömmlichen Sinne kann keine Rede sein.
Zudem kann eine Bestrafung mit mindestens zwei Jahren Freiheitsstrafe für ein Delikt eines eher geringen Unrechtsgehalts nicht angemessen sein.
Der Beschuldigte sieht sich bereits einer Strafe aufgrund des sexuellen Übergriffs von sechs Monaten bis fünf Jahren ausgesetzt. Mit guter Argumentation kann für Stealthing-Fälle ein sog. minder schwerer Fall erstritten werden. Im besten Fall wird die Mindeststrafe von drei Monaten (entspricht 90 Tagessätzen) verhängt.
Stealthing: Das ist zu erwarten
Auch wenn der BGH unterstrichen hat, dass eine Verurteilung wegen Vergewaltigung in Stealthing-Fällen nicht ausgeschlossen ist, ist davon auszugehen, dass in der Praxis die Tatgerichte die Regelwirkung – wie bisher – nicht annehmen werden.
Eine Verurteilung kommt nur dann in Betracht, wenn die Staatsanwaltschaft Ihnen die Tat nachweisen kann und das Gericht dem folgt. In jenen Fällen stehen häufig nur die beiden Sexualpartner zur Verfügung – ohne weitere Beweise. Es ist eine typische Aussage-gegen-Aussage-Konstellation, bei der der Freispruch unser erstes Ziel ist.
Haben auch Sie Post von der Polizei oder der Staatsanwaltschaft erhalten, weil Ihnen ein sexueller Übergriff vorgeworfen wird? Zögern Sie daher nicht, unser Anwaltsteam von HT Defensio Strafverteidiger zu kontaktieren.