von: Rechtsreferendar
Was bedeutet „Stealthing“ ?
Zwei Menschen haben einvernehmlichen Geschlechtsverkehr. Es wird einerseits auf ein Kondom bestanden, doch der Mann streift das Kondom heimlich ab und kommt so zum Höhepunkt. Dieses Verhalten nennt sich „Stealthing“ – und wurde durch das Berliner Kammergericht als sexueller Übergriff nach § 177 Abs. 1 Strafgesetzbuch gewertet – KG (4. Strafsenat), Beschluss vom 27.07.2020 – 4 Ss 58/20.
Wie kam es zu einem solchen Urteil?
Der Angeklagte lernte über die Internetplattform „Lovoo“, welche der Vermittlung zwischenmenschlicher Bekanntschaften dient, die Nebenklägerin kennen. Es kommt wie es kommen muss. Man trifft sich und hat Sex in Form des einvernehmlichen vaginalen Geschlechtsverkehrs. Der Angeklagte hat absprachegemäß ein Kondom übergezogen; dieses aber heimlich wieder abgestriffen. Danach hatte man wieder oder weiter Sex. Schließlich kam er in der Nebenklägerin zum Samenerguss. Frech sagen die Einen. Schlimm sagen die Anderen. Das Amtsgericht nennt es schlicht sexuellen strafbaren Übergriff.
In rechtlicher Hinsicht hat das Amtsgericht Tiergarten den Schuldspruch damit begründet, dass der ungeschützte Geschlechtsverkehr ohne Kondom im Verhältnis zum geschützten Geschlechtsverkehr mit Kondom eine andere sexuelle Handlung bzw. jedenfalls eine andere Form der sexuellen Handlung darstelle, bei der es anders als bei Verwendung eines Kondoms zum direkten Kontakt u. a. der Schleimhäute der Genitalien komme. Erst recht stelle ein Samenerguss im Körper des Sexualpartners eine andere, weitergehende sexuelle Handlung dar als der bloße Vollzug des Geschlechtsverkehrs. Mit diesem Teil des Geschlechtsverkehrs sei die Nebenklägerin eben nicht einverstanden gewesen. Das Gericht bejaht daher den neu geschaffenen Tatbestand des sexuellen Übergriffs nach § 177 Abs. 1 Strafgesetzbuch.
Nach § 177 I StGB macht sich des sexuellen Übergriffs strafbar, wer gegen den erkennbaren Willen einer anderen Person sexuelle Handlungen an dieser Person vornimmt. Bestraft wird eine solche Handlung mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren.
Obwohl also der Geschlechtsverkehr als solcher einvernehmlich erfolgte wurde der Tatbestand bejaht. Das Gericht argumentierte mit dem Rechtsgut der sexuellen Selbstbestimmung. Mit dem Kondom werden Schwangerschaften und Krankheiten verhindert. Der Wille diese Risiken zu minimieren sei Teil der sexuellen Autonomie. Mit dem heimlichen Abstreifen des Kondoms sei der Partner zudem bewusst zu einem bloßen Objekt fremdbestimmten sexuellen Tuns herabgesetzt worden.
Eine Vergewaltigung gem. § 177 Abs. 6 StGB liegt nach der Entscheidung des Gerichts indes nicht vor. Eine Vergewaltigung setzt ein Eindringen gegen den Willen voraus. Andere Gerichte könnten dies anders sehen, da ein Eindringen ohne Kondom nicht gewollt war. Im Fall der Vergewaltigung droht eine Mindeststrafe von 2 Jahren.
Update: Das Amtsgericht Kiel ist anderer Auffassung als das Kammergericht Berlin und vertritt die Auffassung Stealthing falle nicht unter den Tatbestand „Vergewaltigung“: Das Gesetz kenne keinen strafbaren einvernehmlichen Sex.
Haben auch Sie Post von der Polizei oder der Staatsanwaltschaft erhalten, weil Ihnen ein sexueller Übergriff vorgeworfen wird? Zögern Sie daher nicht, sich an die H|T Strafverteidiger zu wenden.