von: Rechtsreferendarin Eva Vogel
Das Landgericht Stade hat im Jahr 1983 den Angeklagten Ismet H. rechtskräftig freigesprochen. Angeklagt war er damals wegen Mordes an einer 17-jährigen Frau. Wegen desselben Tatvorwurfs sitzt er nun in Untersuchungshaft. Wie kann das sein?
„Ne bis in idem“
Wird eine Person vor Gericht freigesprochen und ergeben sich nach dem rechtskräftigen Freispruch neue, hinreichende Tatsachen dafür, dass die freigesprochene Person doch eine Straftat begangen hat, war es den deutschen Justizbehörden bis Dezember 2021 nicht möglich, diese Person noch einmal wegen derselben Sache anzuklagen. Der Grund: Strafklageverbrauch. Nach Art. 103 Abs. 3 GG darf ein Täter nicht zweimal in derselben Sache angeklagt werden. Seine Begründung findet das, noch immer grundsätzlich geltende, sogenannte Prozessgrundrecht im Grundsatz des Vertrauens auf Rechtssicherheit. Niemand solle für ein und dieselbe Tat zwei Mal gesetzlich belangt werden können. Auch dann noch, wenn die „erste“ Belangung ein rechtskräftiger Freispruch gewesen ist.
Änderung des § 362 StPO
Ende 2021 setzte die damals noch regierende GroKo eine Gesetzesänderung durch. Nach § 362 Nr. 5 StPO ist es nun erlaubt, eine Person noch einmal wegen nicht verjährbarer Taten (also wegen Mordes, Völkermordes oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit etc.) anzuklagen, wenn es neue Beweismittel oder Tatsachen dafür gebe, dass der Freigesprochene die Tat begangen hat. Neben der bereits bekannten Rechtskraftdurchbrechung zu Gunsten eines Verurteilten im Rahmen der Wiederaufnahme (§ 359 StPO) war von nun an, zumindest für die wenigen nicht verjährbaren Taten, die das Gesetz kennt, eine Rechtskraftdurchbrechung zu Ungunsten eines rechtskräftig Freigesprochenen möglich. Etwa, wenn moderne kriminaltechnische Neuerungen wie die DNA-Untersuchungen eine Neubewertung von in der Vergangenheit freigesprochenen Fällen erlaube. In diesen Ausnahmefällen müsse das Prinzip der materiellen Gerechtigkeit über das Prinzip der lediglich formellen Gerechtigkeit siegen.
Präzedenzfall am Landgericht Verden
Erstmals wurde dieses Gesetz nun von einem deutschen Gericht angewendet. Im Jahr 1983 hatte das Landgericht Verden den damaligen Angeklagten Ismet H. in dem Verfahren wegen Mordes an der 17-jährigen Friederike von M. nach Zurückverweisung im Rahmen der Revision durch den BGH rechtskräftig freigesprochen. Das LG Verden erklärte den Antrag der Staatsanwaltschaft Verden auf Wiederaufnahme des Verfahrens gegen Ismet H. nunmehr gem. § 362 Nr. 5 StPO für zulässig. Denn bei einer molekulargenetischen Untersuchung von Spermaspuren im Slip der Getöteten wurde offenbar eine Übereinstimmung mit Ismet H. festgestellt. Die Spuren waren erst im Jahr 2012 aufgetaucht. Es handelt sich mithin um neue Tatsachen im Sinne des Wiederaufnahmerechts. Der Strafverteidiger des Angeklagten will vor das Bundesverfassungsgericht zu ziehen. Die Richter des LG Verden kennen zwar die verfassungsrechtlichen Bedenken hinsichtlich des § 362 Nr. 5 StPO, selbst Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier gab bei der Zeichnung des Gesetzes an, gewisse verfassungsrechtliche „Bauchschmerzen“ zu haben, sind aber nicht von dessen Verfassungswidrigkeit überzeugt.