von: Christian Albrecht, Rechtsanwalt
Anklage erhalten – was tun?
Für den Mandanten sah es zunächst schlecht aus: Ein feucht-fröhlicher Abend endete schließlich damit, dass er eine Anklage im Briefkasten vorfand. Der Vorwurf aus der Anklage: Gefährliche Körperverletzung gem. §§ 223, 224 I Nr. 1 StGB. Die zu erwartende Strafe beim Vorwurf der gefährlichen Körperverletzung: Mindestens sechs Monate, bis zu zehn Jahren Freiheitsstrafe.
Mein Mandant reagierte jedoch richtig: Für ihn kam nicht in Betracht, sich selbst zu verteidigen und er kontaktierte mich als Rechtsanwalt auf dem Gebiet des Strafrechts.
Taktik bei unübersichtlichem Geschehen: Schweigen!
Der Grundsatz „Reden ist Silber – Schweigen ist Gold“ gilt nicht nur beim Erhalt einer Vorladung oder Anklage, sondern in vielen Fällen auch in der Gerichtsverhandlung. Gerade bei unübersichtlichen Gewaltgeschehen – zum Beispiel Rangeleien bei Fußballspielen, Kneipenschlägereien etc. – ist es meist weder notwendig noch hilfreich, als Beschuldigter oder Angeklagter etwas zu den Vorwürfen zu sagen.
Zeugenbefragung durch den Strafverteidiger
Wesentlich zielführender ist, einen erfahrenen Anwalt seine Arbeit verrichten zu lassen, indem er die Zeugen intensiv und hartnäckig befragt. So auch hier: Hintergrund der Anklage war eine Rangelei unter mehreren Personen, der ein Streit und insbesondere Alkoholkonsum vorangegangen waren.
Dabei soll es um das verschwundene Smartphone des angeblichen Opfers gegangen sein. Das angebliche Opfer hatte eine anwesende Frau bezichtigt, sein Handy gestohlen zu haben. Daraufhin hatte diese ihm eine Ohrfeige verpasst, worauf er mit einer Kopfnuss ins Gesicht der Frau reagiert habe. Dann sei ein Handgemenge entstanden.
Dies endete damit, dass dem Zeugen schlussendlich eine Flasche auf den Kopf geschlagen sein worden soll – angeblich mittäterschaftlich durch meinen Mandanten. Sofern eine Körperverletzung von mehreren gemeinschaftlich begangen wird, erfüllt dies den Tatbestand der gefährlichen Körperverletzung gem. §§ 223, 224 I Nr. 4 StGB.
Jedoch präsentierten die verschiedenen Zeugen – wie so oft in solchen Situationen – gleich mehrere verschiedene Varianten, wie der Abend abgelaufen sein soll. Eine aus Sicht des Strafverteidigers dankbare Situation.
Geschädigter: Widersprüchliche Aussagen bei Polizei und vor Gericht
Das laut Anklage angebliche Opfer schien sich selbst nicht sicher gewesen zu sein, was an dem Abend passiert war: Gegenüber der Polizei sagte er zunächst aus, von anderen Personen geschlagen und bestohlen worden zu sein. In einer späteren Befragung seien es die in der Wohnung anwesenden gewesen.
Vor Gericht konnte sich das angebliche Opfer dann plötzlich an nichts mehr erinnern. Nach Diversen kritischen Fragen und Vorhalten aus der Ermittlungsakte durch mich verwickelte er sich in Widersprüche.
Zweiter Zeuge: Gar keine Beobachtungen
Ein anderer Zeuge gab an, alle seien „breit“ gewesen und er habe während des gesamten Geschehens geschlafen.
Dritter Zeuge: Anderes Tatgeschehen
Der Dritte von mir vernommene Zeuge schilderte dann sowohl den Ablauf des Geschehens als auch den Tatort gänzlich anders als die anderen Zeugen.
Staatsanwaltschaft: Freiheitsstrafe beantragt
All diese Wiedersprüche hielten die Staatsanwaltschaft nicht davon ab, dennoch eine Freiheitsstrafe wegen gefährlicher Körperverletzung für meinen Mandanten zu beantragen. Für mich war diese Entscheidung an dieser Stelle vollkommen unverständlich: Anders als in anderen Ländern, wo Staatsanwaltschaften reine Anklagebehörden sind, besteht in Deutschland die Pflicht, dass Staatsanwaltschaften objektiv entscheiden. Dies ergibt sich aus § 160 II StPO. Aus meiner Praxis als Anwalt im Strafrecht weiß ich jedoch auch: Leider werden die Vertreter der Staatsanwaltschaft dieser Pflicht vielfach nicht gerecht – wie auch hier.
Selbstverständlich beantragte ich für meinen Mandanten einen Freispruch und legte die aufgeworfenen Zweifel und Widersprüche nochmals in meinem Plädoyer dar.
Dieses Verfahren ist ein weiterer Beweis dafür, dass keine Person, die Beschuldigter oder Angeklagter einer Straftat ist, die Verteidigung selbst übernehmen sollte oder sich auf die Objektivität der Staatsanwaltschaft verlassen sollte. Eine energische und kritische Befragung der Zeugen durch die Staatsanwaltschaft fand nämlich nicht statt.
Urteil: Freispruch
Meinem Mandanten fiel beim Urteilsspruch ein Stein vom Herzen – Freispruch! Das Amtsgericht Lüneburg stimmte meiner Einschätzung zu. Keine Strafe, kein Eintrag im Führungszeugnis.
Einziger Wehrmutstropfen: Aus meiner Sicht hätte es nie zu einer Anklage kommen dürfen, da sich bereits aus der Ermittlungsakte kein hinreichender Tatverdacht ergab – die Zeugen hatten sich bereits bei ihren polizeilichen Vernehmungen schon widersprochen. Die Entscheidung der Staatsanwaltschaft, Anklage zu erheben, war daher für mich nicht nachvollziehbar. Auch wenn mein Mandant nun keine weiteren strafrechtlichen Folgen zu befürchten hat – die nervlich und finanziell belastende Hauptverhandlung ist ihm nicht erspart geblieben.
Wären wir bereits im Ermittlungsverfahren (bei Erhalt einer Vorladung als Beschuldigter) mit der Verteidigung beauftragt worden, hätte sich womöglich auch diese verhindern lassen und das Verfahren mit einer Einstellung geendet.