von ht-strafrecht | 07. November 2022 | Defensio

Mal was anderes: Staatsanwält:innen wandern freiwillig in den Knast

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ein Beitrag von Rechtsreferendarin Alida Pogge

 

55 Richter:innen und Staatsanwält:innen haben sich in Belgien für ein freiwilliges Experiment einsperren lassen, um Haftbedingungen am eigenen Leib zu erfahren. Ein interessantes Unterfangen, das man auch hierzulande durchführen könnte. Doch ob es dafür Freiwillige gäbe?

 

Strafhaft verfolgt eine Vielzahl unterschiedlicher Ziele, darunter den Schutz der Allgemeinheit vor Straftätern, die so genannte Generalprävention, aber auch die Resozialisierung des Individuums, die man Spezialprävention nennt. Auch wenn die Stammtische dieser Republik anderes suggerieren: wissenschaftlichen Erhebungen zufolge ist die Gefängnisstrafe vor allem kostenintensiv – und weitestgehend wirkungslos. Und nicht nur das: Insbesondere Langzeitgefangene werden durch die Haft massiv geschädigt. Es besteht die Gefahr der Prisionisierung. Worum handelt es sich hier?

 

Prisionisierung – Bedeutung und Auswirkungen

Unter dem Begriff Prisionisierung ist der Prozess der allmählichen Anpassung von Gefangenen an die Gefängnisstruktur, also die im Gefängnis geltenden Normen und Wertvorstellungen zu verstehen. Dies führt in der Regel sogar zu Persönlichkeitsveränderung bei den Inhaftierten.

 

Das Gesetz sieht anderes vor

Dabei normiert § 3 Abs. 2 StVollzG, dass schädlichen Folgen des Freiheitsentzugs entgegenzuwirken sind. Hierzulande soll diesen negativen Folgen zum Beispiel dadurch entgegengewirkt werden, dass Besuche in der Regel gestattet werden oder Vollzugslockerungen gewährt werden. Dennoch überwiegen, gerade in Fällen langer Haftstrafen, die schweren Folgen: Verlust der sozialen Kontakte, der Berufstätigkeit und Hobbys, Verlust der Selbstständigkeit und Überlebenstüchtigkeit – in vielen Fällen versinken die Betroffenen in Agonie und Depression.

 

Wie fühlt sich Strafvollzug an?

Durch das Experiment wollten die Richter- und Staatsanwält:innen am eigenen Leibe in Erfahrung bringen, wie sich Strafvollzug anfühlt. Wie fühlt es sich an, wenn weder Lichtschalter noch Tür selbst bedient werden dürfen? Wie fühlt es sich an, das Licht um 22 Uhr ausgeht? Wie fühlt es sich an, wenn man nahezu komplett fremdbestimmt wird?

Die Teilnehmer des Experiments wurden weitestgehend wie „normale Häftlinge“ behandelt, unter anderem wurde ihnen untersagt, ihre Handys zu benutzen und sie wurden für Arbeiten in der Küche und der Wäscherei eingeteilt. Und, wie „normale Häftlinge“ auch, durften sie Familienbesuch empfangen.

 

Experiment vs. Realität

Einen wesentlichen Unterschied gab es beim Experiment jedoch zum gewöhnlichen Alltag in einer Justizvollzugsanstalt: Die Justizvollzugsanstalt in Haren (bei Brüssel), in der das Experiment durchgeführt wurde, wurde neu gebaut und bislang (noch) nicht in Betrieb genommen. Damit fehlt es an einem wesentlichen Faktor: den Mithäftlingen und deren Gewalttätigkeiten und Drangsalierungen, die im Alltag einer Justizvollzugsanstalt nicht wegzudenken sind und auch dem vielen Haftanstalten eigenen schlechten Geruch und Dreck.

Auch bestand für die Teilnehmer jederzeit die Möglichkeit, das Experiment zu beenden – dazu hätten sie nur das Codewort „Terminus“ rufen müssen. Von dieser Möglichkeit können normale Häftlinge nur träumen. Die Freiwilligkeit des Aufenthalts in der Justizvollzugsanstalt, die Kenntnis der Möglichkeit, das Experiment jederzeit beenden zu können und auch die sichere Aussicht, nach weniger als drei Tagen wieder die erdrückenden Mauern verlassen zu können, hat eine ganz andere Auswirkung auf die Psyche, als wenn jemand zu Jahren oder gar Jahrzehnten im geschlossenen Vollzug verurteilt wurde. Daher dürfte das Experiment wenig aussagekräftig und allem voran eine PR-Aktion sein.

 

Am Ende wohl eher eine PR-Aktion

In Hamburg wird aktuell die Jugendanstalt in Billwerder neu gebaut. Nach gegenwärtigem Planungsstand soll sie 2025 fertiggestellt und 2026/2027 in Betrieb genommen werden – eine ideale Möglichkeit, das Experiment auch in Deutschland umzusetzen? Möglicherweise regen wir das an.

 

Wir versuchen Ihnen zu helfen, damit Ihnen die Erfahrung erspart bleibt.

Der Strafvollzug steht ganz am Ende des Strafverfahrens. Damit es gar nicht erst so weit kommt, sollten Sie möglichst frühzeitig eine auf Strafverteidigung spezialisierte Kanzlei mandatieren, am besten bereits im Ermittlungsverfahren. Zögern Sie daher nicht, Fachanwalt für Strafrecht Dr. Hennig und sein Team zu kontaktieren. H/T Defensio steht Ihnen als verlässlicher Ansprechpartner an unseren Standorten in Hamburg, Lüneburg, Dortmund, Köln, Münster, Kiel, Bremen, Hannover, Lübeck, Osnabrück und Frankfurt am Main – oder auch online – zur Verfügung.