29. Oktober 2019

Armutszeugnis für lokalen Journalismus und urzeitliche Triebe in der Bevölkerung

ein Kommentar von Fachanwalt für Strafrecht Dr. Hennig

 

Die Lübecker Nachrichten titelten in der Onlineausgabe vom 16.10.2019 „Misshandlungen im Seniorenheim: Drei Jahre auf Bewährung“. Ich erwarte von Journalisten nicht, dass sie das Strafrecht beherrschen oder gar auf juristisch anspruchsvollem Niveau über ein Strafverfahren berichten. Es steht allerdings außer Frage, dass es Journalisten, wie etwa Sabine Rückert und andere ZEIT-Journalisten gibt, die dazu in der Lage sind. Ich erinnere mich an eine ZEIT-Reportage zu einem von mir verteidigten Strafverfahren am Landgericht Hamburg, in dem sauber recherchiert sämtliche Fehltritte der Hamburger Polizei und Staatsanwaltschaft journalistisch akribisch aufgearbeitet waren und der für meine Mandanten erwirkte Freispruch dezidiert, aber doch gut verständlich für den juristischen Laien, illustriert wurde.

Nun ist es unfair an eine Redakteurin einer lokalen Onlineausgabe den Qualitätsmaßstab einer Wochenzeitschrift, die für die intellektuelle Elite des Landes geschrieben ist, anzulegen. Erwartbar ist es aber doch, dass Basisbegriffe zumindest über Wikipedia nachgeschlagen werden. Hätte die Autorin des vorgenannten, unsäglichen Beitrags – Sophie Schade – dies getan, wäre ihr möglicherweise aufgefallen, dass die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe zur Bewährung nur möglich ist, wenn diese längstens zwei Jahre beträgt.

„Drei Jahre auf Bewährung“ ist für den konkreten Fall nicht nur schlicht falsch, sondern auch rechtlich unmöglich. Der Angeklagte wurde zu 1 Jahr und 4 Monaten Freiheitsstrafe verurteilt. Diese Strafe wurde zur Bewährung ausgesetzt. Die Bewährungszeit setzte das Gericht auf drei Jahre fest.

 

„Fake-News“

Nicht nur die Überschrift, sondern der gesamte Beitrag verdient das Prädikat „Fake-News“. Die Journalistin hat grundsätzliche Werte ihrer Zunft mit Füßen getreten und durch eine einseitige und falsche Berichterstattung den interessierten Bürger schlicht belogen.

Völlig außer Acht geblieben ist zum Beispiel, dass der Angeklagte unter unerträglichen Arbeitsbedingungen litt und einen ansonsten vorbildlichen Job geleistet hat. Es handelte sich um einen einmaligen affektiv geprägten Vorfall. Auch hat sich das Gericht nicht – wie es im Artikel hieß – der Staatsanwaltschaft angeschlossen. Das Ergebnis beruhte auf einer Verständigung der Verteidigung, der Staatsanwaltschaft und dem Gericht.

 

Das rechtsstaatliche Verfahren als schutzwürdiges Gut

Immerhin erwähnt Frau Schade das Verhalten der Zuschauer – wenn auch in einem entschuldigenden Duktus. Es ist jedoch eine Verharmlosung, wenn sie schreibt, dass die Zuschauer ihre Emotionen kaum im Griff hatten. Teile der Öffentlichkeit bedrohten und beschimpften den Angeklagten und seinen Verteidiger. Es sind jene urzeitlichen Triebe, denen unser Rechtsstaat Einhalt gebietet. Jene Triebe, die tief in einer breiten Masse der Bevölkerung, die nach Selbstjustiz lechzt, verhaftet sind und uns immer wieder vor Augen führen, welch fragiles und schutzwürdiges Gut ein rechtsstaatliches Verfahren ist. Hätte es diesen durchaus fairen Strafprozess nicht gegeben, wäre der Angeklagte vermutlich wie in einer Anarchie oder Diktatur gelyncht worden.

Glücklicherweise konnte der Kollege Fachanwalt für Strafrecht Albrecht durch seinen engagierten Einsatz eine Bewährungsstrafe durchsetzen und dem reumütigen und vollständig resozialisierten Angeklagten damit zu einem gerechten Ergebnis verhelfen.