ein Beitrag von Rechtsreferendarin Ann-Sophie Püts
Im Sommer 2021 wurde der Straftatbestand für Kinderpornographie verschärft; das Verbreiten oder der Besitz kinderpornographischer Inhalte ist seitdem ein Verbrechen. Der Münchener Richter am Amtsgericht Robert Grain hat die Norm dem Bundesverfassungsgericht vorgelegt, weil er sie für verfassungswidrig hält. Was treibt den Mann an?
Gemäß § 184 b Absatz 1 Nummer 1 Strafgesetzbuch wird mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren bestraft, wer einen kinderpornographischen Inhalt verbreitet oder der Öffentlichkeit zugänglich macht. Die polizeiliche Kriminalstatistik 2021 verzeichnet einen Anstieg der neuen Ermittlungsverfahren zum vorherigen Jahr um 108,8 % (auf insgesamt über 39.000 Fälle), Tendenz steigend. H/T Defensio ist eine von wenigen Kanzleien in Deutschland, die auf eine Verteidigung in diesem Deliktsfeld spezialisiert ist.
Wie kam es zu der Verschärfung der Gesetzeslage?
Am 25. März 2021 hat der Deutsche Bundestag das Gesetz zur Bekämpfung sexualisierter Gewalt gegen Kinder beschlossen. Durch eine deutliche Verschärfung des Strafrechts, effektivere Strafverfolgungsmöglichkeiten sowie Stärkungen der Prävention und der Qualifikation in der Justiz sollten Kinder zukünftig besser vor Missbrauchstaten geschützt werden. In diesem Rahmen wurde § 184 b Strafgesetzbuch zu einem Verbrechen hochgestuft. Verbrechen sind im Gegensatz zu Vergehen rechtswidrige Taten, die im Mindestmaß mit Freiheitsstrafe von einem Jahr oder darüber bedroht sind. Bereits damals gab es im Hinblick auf diese Verschärfung warnende Stimmen aus allen Richtungen, insbesondere aus der Praxis.
Was hat Amtsrichter Grain gegen das Gesetz einzuwenden?
Nun hat ein Amtsrichter aus München dem Bundesverfassungsgericht im so genannten Normenkontrollverfahren den § 184 b Absatz 1 Nummer 1 Strafgesetzbuch vorgelegt. Das heißt, er geht davon aus, die Norm sei verfassungswidrig. Konkret liege ein Verstoß gegen Artikel 2 und 12 des Grundgesetzes vor.
Verstoß gegen Artikel 2 des Grundgesetzes – Übermaßverbot –
Grundsätzlich gilt, dass das verfolgte Ziel einer gesetzlichen Regelung in seiner Wertigkeit nicht unverhältnismäßig gegenüber der Intensität des Eingriffs sein darf.
Mit Blick auf gravierende Fälle wurden nicht nur die jeweiligen Höchststrafen angehoben, sondern auch die Mindeststrafen. In der Praxis führe dies zu nicht hinnehmbaren Ergebnissen hinsichtlich der Fälle, die weder gravierend noch durchschnittlich sind, sondern relativ unerheblich bzw. außergewöhnlich „harmlos“.
Ein solch „harmloser“ Fall kann sich zum Beispiel daraus ergeben, dass Eltern, die Kinderpornographie auf den Mobiltelefonen ihrer Kinder finden und zur Warnung oder Kenntnisnahme an andere Eltern in ihrem Umfeld weiterleiten, mit einem strafrechtlichen Verfahren konfrontiert rechnen müssen. Die mildeste Strafe ist eine einjährige Freiheitsstrafe, ausgesetzt zur Bewährung. Ist das gerecht? Es fehle insoweit an einer gesetzlichen Regelung wie einem minder schweren Fall mit reduzierter Mindeststrafe, urteilen viele.
Durch die Veränderung der Rechtslage sei das Ziel, Schutz der Kinder vor Ausbeutung, nicht effektiv verbessert worden, bringt Amtsrichter Grain vor. Es habe ebenso mit den zuvor geltenden Strafrahmen erreicht werden können. In seinen Augen seien auch die in der Vergangenheit ausgeurteilten Strafen grundsätzlich geeignet gewesen, die Täter vor erneuter einschlägiger Straffälligkeit abzuschrecken.
Neben der jeweiligen Strafe entfalte auch der Ablauf des Strafverfahrens an sich bereits eine erhebliche „Wirkung“ auf den Täter – Hausdurchsuchung, Anwaltskosten, Verfahrensdauer sowie die Auferlegung der Kosten des Verfahrens im Falle einer Verurteilung. In Bezug auf die Fälle, die einen minder schweren Fall darstellen würden, bedürfe es daher keiner Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr.
Eine Mindeststrafe von einem Jahr Freiheitsstrafe stehe zudem außer Verhältnis zum Eingriff in die persönliche Freiheit des Angeklagten. Strafaussetzung zur Bewährung ist nur noch möglich, solange „besondere Umstände“ in der Tat oder der Person des Angeklagten vorliegen. Selbst wenn von dieser Ausnahme Gebrauch gemacht wird, gilt man als erheblich vorbestraft und riskiert bei erneuter Straffälligkeit den Widerruf der Bewährung.
Eine Einstellung aus Opportunitätsgründen nach §§ 153, 153 a Strafprozessordnung scheidet aufgrund des Verbrechenscharakters ebenfalls aus. Die Verurteilung wird darüber hinaus ins Führungszeugnis aufgenommen. Eine Bewerbung auf eine Arbeitsstelle, bei der die Vorlage dieses Zeugnisses erforderlich ist, ist nahezu aussichtslos.
Verstoß gegen Artikel 2 des Grundgesetzes in Bezug auf § 184 b III – Schuldprinzip –
In der Vorlage des Richters findet ebenfalls § 184 b Absatz 3 Strafgesetzbuch (Besitz kinderpornographischer Inhalte) Erwähnung aufgrund einer engen Verknüpfung mit dem Verbreiten nach § 184 b Absatz 1 Nummer 1 Strafgesetzbuch.
„Die Schuld des Täters ist Grundlage für die Zumessung der Strafe“, § 46 Absatz 1 Strafgesetzbuch. Dieses Schuldprinzip bildet die Grundlage für die Strafbegründung, das Strafmaß sowie die Schuld-Unrechts-Kongruenz. Demzufolge darf eine Strafe nur verhängt werden, wenn dem Täter seine Tat persönlich zum Vorwurf gemacht werden kann.
Aufgrund des Fehlens eines minder schweren Falles ist eine sich an der individuellen Schuld orientierende und verhältnismäßige Bestrafung in vielen Fällen nicht möglich. Dies insbesondere im Falle eines geständigen, nicht vorbestraften Angeklagten, der einige wenige kinderpornographische Inhalte besitzt. Ihn mit einem Jahr Freiheitsstrafe, ausgesetzt zur Bewährung, abzuspeisen, ist nachgerade alternativlos. Das Gesetzt lässt keine mildere Strafe zu.
Auch für die Einordnung eines „durchschnittlichen“ Falles bestehe kein Raum. Die Gesetzesänderung führt demnach dazu, dass nahezu alle Täter einer Freiheitsstrafe zwischen ein und zwei Jahren erhalten werden, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wird. Vorausgesetzt sie sind nicht vorbestraft und geständig.
Kombiniert man dies mit den zusätzlichen Belastungen wie den Verfahrenskosten sowie dem Verfahren im Allgemeinen dürfte die „Sanktionswirkung“ auf den Angeklagten – zumindest aus subjektiver Sicht – nahezu identisch sein.
Verstoß gegen Artikel 12 des Grundgesetzes – Berufsfreiheit –
Eine Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr kann weitreichende berufliche Konsequenzen haben. Zum einen die bereits aufgezeigte Eintragung der Verurteilung in das polizeiliche Führungszeugnis. Da eine Einstellung des Verfahrens nach §§ 153, 153 a Strafprozessordnung nicht mehr möglich ist, kann diese Eintragung nach geltender Rechtslage nicht verhindert werden.
Für Berufsgruppen, die ein sog. „erweitertes Führungszeugnis“ vorlegen müssen, wirkt sich die Neureglung noch gravierender aus. Dieses besondere Zeugnis müssen Bewerber vorlegen, die in besonderen Vertrauensverhältnissen tätig werden möchten.
Extreme Folgen zieht bereits eine Anklageerhebung, jedenfalls aber eine Verurteilung, für alle Beamten nach sich. Diese verlieren mit dem Tag der Rechtskraft des Urteils ihre Beamtenstellung – mithin ihren Anspruch auf Besoldung und Versorgung. Durch einen minder schweren Fall könnte dies in ein angemessenes Verhältnis gebracht werden.
Verfahren des Bundesverfassungsgerichts
Das Bundesverfassungsgericht wird sich nun die Begründung des bayerischen Richters anschauen und könnte sodann die Rechtsnorm für verfassungswidrig erklären. Wird die betroffene Rechtsnorm durch das Bundesverfassungsgericht in Folge der Verfassungswidrigkeit für „nichtig“ befunden, führt dies zu ihrer Streichung aus dem Gesetz. Sie würde fortan nicht mehr angewendet werden können.
Für laufende Verfahren wäre eine erfolgreiche Vorlage von enormer Bedeutung. Beruht ein Strafurteil auf einer nichtigen Rechtsnorm, kann das Verfahren auch nach seinem rechtskräftigen Abschluss wieder aufgenommen werden. Für etliche Betroffene wäre das ein möglicher Ausweg, um beispielsweise eine verlorene berufliche Stellung wiederzuerlangen.
Fest steht: Die Entscheidung ist mit Spannung zu erwarten.
Haben Sie eine Vorladung als Beschuldigter erhalten?
Wurde Ihnen ein strafrechtlicher Vorwurf in Zusammenhang mit Kinderpornographie oder anderen Sexualdelikten gemacht? Machen Sie gegenüber den Ermittlungsbehörden bitte keine Angaben und zögern Sie nicht, Fachanwalt für Strafrecht Dr. Hennig und sein Team zu kontaktieren. H/T-Defensio hilft Ihnen gerne und steht Ihnen als verlässlicher Ansprechpartner jederzeit zur Verfügung. Wir freuen uns, Sie an einem unserer Standorte – in Lüneburg, Hamburg, Dortmund, Köln, Münster, Kiel, Bremen, Hannover, Lübeck oder Osnabrück – begrüßen zu dürfen!