von ht-strafrecht | 03. Januar 2023 | Defensio

Der kleine Unterschied: Niemand muss es dulden, dass man ihm beim Pinkeln zuschaut!

gefängnis-drogenkontrolle

ein Beitrag von RA Christoph Grabitz und Rechtsreferendarin Leoni Jentsch

 

Gute Strafverteidigung begrenzt die Allmacht des Staates – und zwar vom Ermittlungsverfahren über den Strafprozess bis in die Strafvollstreckung. Das Bundesverfassungsgericht hat nun in einer kleinen (aber feinen!) Entscheidung die Rechte von Strafgefangener auf Intimität gestärkt.  

Drogen sind ein Problem in Gefängnissen weltweit. Deshalb führen Haftanstalten in ganz Deutschland regelmäßige Drogenscreenings in Form von Urinproben durch. Um Täuschungen zu verhindern – etwa dadurch, dass jemand den Urin eines anderen abgibt – werden die Proben oft unter direkter Einsicht auf das männliche Genital durchgeführt. Das kann im Einzelfall das Recht auf Intimität verletzen, urteilte nun das Bundesverfassungsgericht.

 

Auslöser war ein Fall aus Bochum

Auslöser war der Fall eines Häftlings aus Bochum. Dieser hatte das Vorgehen als entwürdigend und beschämend kritisiert. Trotz seiner Beschwerde sollen noch drei weitere Urinkontrollen stattgefunden haben. Lediglich einer von drei Aufsehern, so der Beschwerdeführer, habe sich zumindest nach einem einzigen gezielten Blick auf seinen Penis sofort abgewandt, um seine Intimsphäre im Übrigen zu schützen. Alle anderen hätten ihn während der gesamten Urinabgabe beobachtet.

In seinem Antrag auf gerichtliche Entscheidung beantragte der Häftling festzustellen, dass das Screening künftig durch Blutentnahme aus der so genannten Fingerbeere stattfinden solle. Damit ist die innenliegende Seite der Fingerkuppe gemeint, in die zum Beispiel Diabetiker hineinstechen, um ihren Blutzuckergehalt zu überprüfen. Zudem beantragte er die Feststellung, dass die bisherige Praxis der der Penis-Beschau rechtswidrig gewesen sei.

 

Der Zweck heiligt die Mittel, sagen die Haftanstalten

Wie so oft versuchten sich die Haftanstalten mit einem äußerst fadenscheinigen Argument herauszureden: Der Zweck heilige die Mittel.

Drogen seien eben ein Problem. Häftlinge seien eben eingesperrt, um sie zu resozialisieren. Und, wie so oft, wurde das große Wort der Resozialisierung wie ein glücklicher Weise oktroyierter Zwang dargestellt: Weil der Häftling nicht selbst zur Räson kommen könne, müsse man ihn mit dieser Pinkel-Praxis zu seinem Glück ein wenig, nun ja, zwingen. Und überhaupt diene die ganze Sache ja dem Gesundheitsschutz. Wer bitte schön sollte dagegen etwas einzuwenden haben? Jedenfalls beabsichtige niemand, Strafgefangene zu Anschauungsobjekten zu degradieren, indem man ihnen beim Pinkeln auf den Penis schaue.

 

BVerfG: Auch der Strafgefangene ist, im Grundsatz, frei

Dem folgte das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss vom 22. Juli 2022 nicht, Aktenzeichen 2 BvR 1630/21. Der Zweck, so lässt sich die Entscheidung zusammenfassen, heilige die Mittel eben nicht immer. Es bedürfe einer sorgfältigen Abwägung im Einzelfall. Gegeneinander abzuwägen sei das Recht auf Intimität eines Strafgefangenen mit dem Sicherheitsinteresse der Haftanstalt. Für jeden Einzelfall aufs Neue.

Keine Rede ist im Übrigen in dem Beschluss davon, dass Haftanstalten oder Gefängnisdirektoren generell besser wüssten, was für ein Individuum gut ist – und was nicht. Diese Haltung deckt sich mit der sonstigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Drogenkonsum. Im ersten Schritt nämlich – gesund oder nicht – ist dieser ein Ausdruck des allgemeinen Persönlichkeitsrechts, einem Ausdruck der menschlichen Freiheit, der sich auf die Formel herunterbrechen lässt: Tun und Lassen, was man will, solange man nicht die Rechte anderer gefährdet. Der schlichte Konsum von Drogen, der eigene Suizid, und sei es nur auf Raten, sei es durch legale Drogen wie Alkohol oder Tabak oder sei es durch Illegale wie Kokain, Heroin, Crystal Meth, das wird oft verkannt, ist nicht verboten.

 

Grundrechte als Lackmustest der Freiheit

Die Grundrechte, das hat das Bundesverfassungsgericht in zahlreichen mutigen Entscheidungen immer wieder betont, gelten im Grundsatz auch für alle Mitglieder unserer Gesellschaft, die sich in dem so genannten „besonderen Gewaltverhältnis“ namens Gefängnis befinden. Mehr noch: Ein wichtiger Indikator für ihre Effektivität ist die Frage, inwieweit sie auch auf jene Anwendbarkeit finden, die nicht zur gesellschaftlichen Mehrheit gehören, keine Lobby haben und nicht im Zentrum des öffentlichen Interesses stehen. Strafgefangene gehören dazu. Das Gefängnis befindet sich in der Regel irgendwo weit außerhalb unserer Städte, im Industriegebiet oder neben einem Recyclinghof.

 

Endlich: Die Fingerbeere wird Gesetz

Und was, mag man sich fragen, hat die ganze Sache jetzt gebracht? Die Antwort ist von berückender Einfachheit: Das Recht hat sich verändert. Die Fingerbeere hat, soweit wir wissen zum allerersten Male, Einzug in ein Landesgesetz gehalten.

Der neue § 65 Abs. 1 Satz 2 des Strafvollzugsgesetzes für Nordrhein-Westfalen lautet:

  • 65 StVollzG NRW – Maßnahmen zur Feststellung von Suchtmittelkonsum

(1) Zur Aufrechterhaltung der Sicherheit oder Ordnung der Anstalt können allgemein oder im Einzelfall Maßnahmen angeordnet werden, die geeignet sind, den Missbrauch von Suchtmitteln festzustellen. Diese Maßnahmen dürfen mit einem geringfügigen körperlichen Eingriff, namentlich einer Punktion der Fingerbeere zur Abnahme einer geringen Menge von Kapillarblut, verbunden sein, wenn die Gefangenen einwilligen. […]

 

Was uns bei H/T Defensio antreibt

Der kleine Fall zeigt eindrucksvoll, dass Recht und Gerechtigkeit immer wieder aufs Neue erstritten werden wollen. Dass das Recht nicht statisch ist, sondern sich immer aufs Neue weiter entfaltet. Und dass ein Einsatz für die Freiheit eines bestimmten Individuums nicht nur das betreffende Individuum ein Stückchen freier macht, sondern die gesamte Gesellschaft. Diese Idee spornt das Verteidigerteam von H/T Defensio jeden Tag aufs Neue an. Wir freuen uns, Sie an einem unserer Standorte – in Lüneburg, Hamburg, Dortmund, Köln, Münster, Kiel, Bremen, Hannover, Lübeck, Osnabrück oder Frankfurt am Main – begrüßen zu dürfen.