von ht-strafrecht | 10. November 2023 | Defensio

Mitgehangen, mitgefangen? Warum § 184j StGB (Straftaten aus Gruppen) abgeschafft werden muss.

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ein Blogbeitrag von RA Christoph Grabitz und Rechtsreferendarin Marla Kotte

Als Reaktion auf die so genannte „Kölner Silvesternacht“ 2015/2016, nach der sich über 500 Frauen über Belästigungen aus Gruppen junger Männer beschwert hatten, erließ der Gesetzgeber den Straftatbestand § 184j StGB. Die Norm ist ein Paradebeispiel für Symbolpolitik auf dem Gebiet des Sexualstrafrechts, verfassungswidrig und gehört abgeschafft.

 

Die Straftaten, die die ganze Republik empörten, seien vorwiegend aus Gruppen junger Männer mit afrikanischem und arabischem Hintergrund gekommen, hieß es. Der Zeitpunkt ist heikel: Wir befinden uns wenige Wochen, nachdem die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel im Angesicht einer nie dagewesenen Flüchtlingskrise die Entscheidung getroffen hatte, die deutschen Grenzen nicht zu verschließen. Der kollektive Optimismus des „Wir schaffen das!“ drohte auch durch die Eindrücke aus der Silvesternacht zu kippen.

Auf keinem Gebiet des Strafrechts ist die Anfälligkeit des Gesetzgebers für Symbolpolitik so groß wie im Sexualstrafrecht. Das mediale Interesse ist hoch. Debatten werden emotional und wenig differenziert geführt. Ein hartes Vorgehen gegen Sexualstraftäter („Wegsperren für immer“, wie Ex-Kanzler Gerhard Schröder ausrief) ist für Politiker:innen eine willkommene Möglichkeit, um sich zu profilieren. Kein Stammtisch zwischen Flensburg und Oberammergau, der diesem Ansinnen widersprechen würde. § 184j StGB ist ein Paradebeispiel dafür, welche Gefahren in gesetzgeberischen Schnellschüssen auf diesem Gebiet lauern.

Der Straftatbestand des § 184j StGB liest sich wie folgt:

„Wer eine Straftat dadurch fördert, dass er sich an einer Personengruppe beteiligt, die eine andere Person zur Begehung einer Straftat an ihr bedrängt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft, wenn von einem Beteiligten der Gruppe eine Straftat nach den §§ 177 oder 184i begangen wird und die Tat nicht in anderen Vorschriften mit schwererer Strafe bedroht ist.“

Im Zentrum unseres modernen Strafrechts steht der Gedanke der individuellen Schuld, nulla poena sine culpa, keine Strafe ohne Schuld. Der Staat darf sein Monopol zur Bestrafung danach nur ausüben, wenn ein Verhalten nicht nur objektiv verboten, sondern einem Menschen, nach dessen individuellen Voraussetzungen, auch individuell vorwerfbar gewesen ist. Nur dann, wenn der Mensch auch hätte anders handeln können und sich bewusst dagegen entschieden hat, hat er Schuld auf sich geladen. Das Menschenbild, das hier zu Grunde gelegt wird, setzt einen aufgeklärten Menschen voraus, der nicht von den Umständen getrieben ist, sondern dazu im Stande, „sich seines eigenen Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen“, wie Immanuel Kant es ausdrückte.

§ 184j StGB führt diese Grundsätze ad absurdum. Denn neben dem – absolut konturlosen, dazu unten mehr – „fördern“ einer Straftat knüpft die Norm an etwas Statisches, von konkreter Willensbetätigung Losgelöstes an: Die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, aus der heraus eine Sexualstraftat begangen wird. Meine individuelle Strafbarkeit hängt damit nicht mehr (nur) von meinem eigenen Willen ab. Sie hängt (auch) von den Menschen ab, mit denen ich mich – möglicherweise auch nur zufällig – umgebe. Und so hat, aus – wahrscheinlich berechtigter – Empörung über die Geschehnisse in der Kölner Silvesternacht, eine zivilrechtlich anmutende „Sippenhaftung“ in unser Strafrecht Einzug gehalten.

Wie nun soll dieses „fördern“ verstanden werden, das ja immerhin nach einer willensgesteuerten Handlung klingt? Wer den Satz zu Ende liest, kommt wiederum eher zu dem Schluss, dass das hier gemeinte Fördern sich ebenfalls in der Gruppenzugehörigkeit als solcher erschöpfen kann. Die aus der Gruppe begangene Straftat muss nämlich dadurch gefördert worden sein, dass der Beschuldigte „sich an einer Personengruppe beteiligt, die eine andere Person zur Begehung einer Straftat an ihr bedrängt“. Es ist gänzlich nebulös und damit mit dem Bestimmtheitsgrundsatz unvereinbar, was damit gemeint ist.

Der Bestimmtheitsgrundsatz im Strafrecht kann als Disziplinierung des Gesetzgebers zu einer möglichst klaren Kommunikation mit uns Bürgern verstanden werden: Wenn der Staat etwas unter Strafe stellen will, so besagt der Bestimmtheitsgrundsatz, dass er diesen empfindlichen Eingriff in unsere Freiheit nur unter der Bedingung vornehmen darf, dass auch für die dunkelste Kerze auf dem Leuchter unser Gesellschaft noch erkennbar ist, ab wann er – oder sie – sich strafbar macht. Dafür muss der Staat sorgen. Die Gesetze müssen so gut lesbar sein, dass von vorneherein klar ist, wann aus Spiel Ernst wird. Nur wenn ich nämlich weiß, was verboten ist, kann ich meinen Verstand gebrauchen (vielleicht ganz kurz mal an Immanuel Kant denken) und der Versuchung widerstehen, die von mir als solche erkannte Regel zu brechen. Wenn ich das tue, bin ich verantwortlich für das, was ich getan habe. Deshalb wird der Schuldgrundsatz gemeinhin in einem Atemzug mit dem Bestimmtheitsgrundsatz genannt.

Es spricht also alles dafür, dass § 184j StGB verfassungswidrig ist. Dass die Norm nunmehr seit sieben Jahren im Gesetz steht und das Bundesverfassungsgericht sie noch nicht kassiert hat, dürfte auch damit zusammenhängen, dass sie so gut wie gar nicht angewendet wird. Es handelt sich um ein kleines hässliches populistisches Stück Symbolpolitik, das weitestgehend unbeachtet von Justiz und Öffentlichkeit einen Dornröschenschlaf in unserem StGB vollführt. Abgeschafft gehört sie dennoch. Denn sie kleidet unseren Rechtsstaat nicht.

Übrigens: Von weit über 1000 Strafanzeigen, die im Zusammenhang mit der „Kölner Silvesternacht“ bei der Polizei Köln eingegangen sind, handelte es sich offenbar nur gut bei der Hälfte um Sexualstraftaten. Weshalb der § 184j StGB nur in Fällen von Sexualstraftaten und nicht dann eingreift, wenn aus einer Gruppe Taschendiebstähle oder Sachbeschädigungen begangen werden, erschließt sich daher nicht. Neben Algeriern, Marokkanern und Irakern waren auch Deutsche unter den Beschuldigten. Nur 37 Verfahren wurden überhaupt abgeschlossen. Nur sechs (!) Beschuldigte standen wegen eines Sexualdelikts vor Gericht.

Für eine Silvesternacht in einer deutschen Großstadt dürfte das eine wunderbare Bilanz sein.

 

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