von ht-strafrecht | 31. Oktober 2023 | Defensio

Die Gefühle schwinden: BVerfG entscheidet über Wiederaufnahme des Strafverfahrens

BVerfG-wiederaufnahme-strafverfahren

von Christoph Grabitz

Das Bundesverfassungsgericht hat das „Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit“ für verfassungswidrig erklärt. Ein Freispruch auf Bewährung ist damit nicht mehr möglich. Das ist ein Segen für den Rechtsstaat. 

 

Es ist dieser eine Moment, den ein Angeklagter und sein Verteidiger nie vergessen. Die Tür zum Beratungszimmer geht auf, das Gericht kommt rein, die Roben wehen, der Saal erhebt sich, Stille kehrt ein. „Im Namen des Volkes ergeht nun das folgende Urteil: Der Angeklagte wird freigesprochen. Bitte setzen Sie sich.“

Manchen Mandanten kommen jetzt die Tränen. Manche zittern, manche seufzen. Manche starren einfach nur ins Nichts. Lachen oder unbändige Freude? Fehlanzeige. Die kommen erst weitaus später, wenn überhaupt, außerhalb dieses Saals, wenn keiner zusieht. Der existentielle Schrecken sitzt zu tief. Es gibt wenige Momente, in den die Brüchigkeit der menschlichen Existenz so plastisch wird, wie im Moment des Freispruchs.

Hätte das Bundesverfassungsgericht heute anders geurteilt und § 362 Nr. 5 Strafprozessordnung für verfassungsmäßig erklärt, so hätte es diesen wichtigen Moment entwertet. Es hätte daran mitgewirkt, eine jahrtausendealte Rechtsregel auszuhebeln, die hierzulande den Rang eines Justizgrundrechts hat: Wer einmal durch rechtskräftiges Urteil freigesprochen worden ist, darf wegen derselben Angelegenheit nicht noch ein zweites Mal verfolgt werden. Er darf sich darauf verlassen, dass die Justiz ihn in Ruhe lässt – selbst in dem Falle, dass neue Beweise auftauchen, die seine Schuld vermuten lassen. Es darf keinen Freispruch auf Bewährung geben.

Ein Kriminalfall aus dem Jahr 1981 hatte zu dem umstrittenen Gesetz geführt, der Fall Frederike von Möhlmann. Die damals 17-jährige Schülerin wurde auf dem Nachhauseweg vergewaltigt und mit mehreren Messerstichen getötet. Ihre Leiche wurde in einem Waldstück aufgefunden. In ihrem Slip fanden die Ermittler Spermaspuren, eine DNA-Analyse war aber in den 80er Jahren technisch noch nicht möglich.

Angeklagt wurde Ismet H. Das Landgericht Lüneburg verurteilte ihn im Juli 1982 wegen Mordes zu lebenslanger Haft. Der Bundesgerichtshof hob das Urteil auf und verwies die Sache zur Entscheidung an das Landgericht Stade, das H. 1983 freisprach. Der Freispruch erwuchs in Rechtskraft.

Hans von Möhlmann, der Vater Frederikes, kämpfte Zeit seines Lebens für eine Verurteilung Ismet Hs. Im Jahr 2012 setzte er eine zu diesem Zeitpunkt erstmals mögliche DNA-Analyse des Spermas durch. Diese ergab eine Übereinstimmung der in dem Slip gefundenen DNA mit der DNA von Ismet H.

Wäre die DNA-Analyse bereits in den 80er Jahren möglich gewesen, wäre Ismet H. wohl nicht freigesprochen worden. Eine Wiederaufnahme des Verfahrens aus diesem Grunde war aber verfassungsrechtlich nicht zulässig. Der Grundsatz ne bis in idem statuiert ein Wiederholungsverbot: Wer einmal am Wickel der Strafjustiz hing und rechtskräftig freigesprochen worden ist, soll sich darauf verlassen dürfen, dass es dabei auch bleibt – technischer Fortschritt her oder hin.

Hans von Möhlmann brachte nun eine Petition auf den Weg, die 2021 dazu führte, dass die schwarz-rote Koalition das „Gesetz zur materiellen Gerechtigkeit“ erließ. Ein Festhalten am Grundsatz ne bis in idem sei in Fällen von Kriegsverbrechen und Mord „schlechthin unerträglich“, befand der Gesetzgeber, wenn im Nachhinein begründete Zweifel an der Richtigkeit eines rechtskräftigen Freispruchs auftauchten. Dann müsste von dem Justizgrundrecht zum Wohle „der Gerechtigkeit“ abgewichen werden und die Wiederaufnahme zugelassen werden.

Im Februar 2022 wurde die Wiederaufnahme für zulässig erklärt. H. kam in Untersuchungshaft. In einem Eilverfahren wiederum setzte das Bundesverfassungsgericht den Haftbefehl zunächst außer Vollzug und hob ihn später komplett auf, weil es die von der Verteidigung vorgebrachten Bedenken an der Verfassungsmäßigkeit des neuen Gesetzes teilte. H. kam frei. Seither ruhte das Wiederaufnahmeverfahren, bis zu der heutigen Entscheidung.

Hans von Möhlmann starb im Juni 2022. Eine Gnade, dass er, der so viele Jahre erbittert für Gerechtigkeit im Falle seiner Tochter gekämpft hatte, den Erlass des neuen Gesetzes noch miterlebte, die angeordnete Wiederaufnahme, die Zweifel des Bundesverfassungsgerichts aber nicht.

Die Gefühle, die diesen Vater über Jahrzehnte angetrieben haben müssen, sind nachvollziehbar: Schmerz und Ohnmacht. Empörung über den Verlust eines Kindes, das in einer so entwürdigenden Art und Weise aus dem Leben gerissen wurde, auf dem Rückweg vom Musikunterricht. Es muss in der Tat unerträglich zu sein, so etwas miterleben zu müssen – und dabei zu wissen, dass der Täter frei herumläuft.

Unerträglichkeit aber darf keine Kategorie des Rechtsstaats sein. Denn dann hält laienhafte Subjektivität Einzug in ein hochspezialisiertes und fein austariertes System. Dann tritt Fühlen an die Stelle des nüchternen und prüfenden Blicks. Gerade das Nervenbehalten, das bewusste Eindämmen von Emotionen in schwierig zu meisternden Situationen, ist auch in unserem Beruf ein Zeichen für Professionalität. Insoweit unterscheiden wir Juristen uns nicht vom Herzchirurgen, Sprengstoffexperten oder Piloten.

Dass der Gesetzgeber das missratene Gesetz mit dem Begriff „Erträglichkeit“ begründete, war bereits Etikettenschwindel. Das Wort ist nämlich der berühmten Radbruchschen Formel entlehnt.

Geltendes Recht, so der Rechtspositivist Gustav Radbruch, dürfe in einer Demokratie nicht aus der Natur oder Religion abgeleitet werden, das sei unaufgeklärt und berge die Gefahr eines Gesinnungsstrafrechts.

Es gebe einen Unterschied zwischen geltendem Recht und Gerechtigkeit. Gerechtigkeit sei ein Ideal, ein hehres Ziel, das immer nur angestrebt werden könne. Die Frage, ob etwas gerecht oder ungerecht sei, sei in den Parlamenten zu erörtern, zur Abstimmung zu bringen und – möglichst – in Rechtsform zu gießen.

Geltendes Recht sei die Gesamtheit aller ordnungsgemäß vom Gesetzgeber erlassenen Normen. Und damit das System seine Legitimität behalte, müssten die Bürger diese Normen so lange befolgen, wie sie in Kraft seien. Und zwar auch, wenn die Normen im Einzelfalle nicht gerecht seien.

Wie aber umgehen mit all den Nazischlächtern, die sich nach dem Krieg darauf beriefen, sie hätten nur geltendes NS-Recht umgesetzt? Hier setzt das Merkmal der „Erträglichkeit“ an. Ein Gesetz, das per se überhaupt nicht dazu angetan ist, das Ideal der Gerechtigkeit zu erreichen, zum Beispiel, weil es die Gleichheit der Menschen leugnet oder Menschen an Leib und Leben verletzen will, sei überhaupt kein Recht, das ist Inhalt der Radbruchschen Formel. Solch „unerträglich“ ungerechte Gesetze seien gar nicht anzuwenden.

Unerträglich in einem Radbruchschen Sinne ist das Festhalten am Grundsatz ne bis indem selbst in bewegenden Fällen wie der Mordsache Frederike von Möhlmann nicht.

Wenn ein Mensch Beschuldigter in einem Strafverfahren ist, so sieht er sich beispielloser staatlicher Übermacht ausgesetzt. Der Staat bekommt jetzt Eingriffsbefugnisse, die er sonst nicht hat: Er darf in das Privateste eindringen, was ein Mensch hat, seine eigene Wohnung, seine engsten Beziehungen. Er darf Briefe und Handies auslesen. Er bekommt dadurch Kenntnis von all den kleinen und größeren Lügen, die wir uns leisten, unseren Ängsten, geheimen Phantasien, sexuellen Präferenzen, Affären. Von all dem, was wir lieber verstecken. Er darf körperliche Untersuchungen vornehmen und uns sogar, ohne dass unsere Schuld nachgewiesen wäre, im Rahmen der Untersuchungshaft die Freiheit entziehen.

In komplizierten Fällen darf der Staat all dies viele Jahre lang und durch mehrere Instanzen tun. Im Falle Ismet H. ist es nun bereits über vierzig Jahre lang her, dass erstmals die Polizei vor seiner Tür gestanden hat.

Eines der wesentlichen Kriterien, in dem sich ein Rechts- von einem Unrechtsstaaten unterscheidet, ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Ne bis in idem ist Ausdruck dieser Verhältnismäßigkeit.  In bestimmten Fällen kann das schutzwürdige Interesse eines Beschuldigten auf einen Schlussstrich seiner Verfolgung höher zu bewerten sein, als das Interesse der Allgemeinheit an (dem Ideal der) Gerechtigkeit. Dass es hierdurch im Einzelfall zu „falschen“ Urteilen kommt und ein Mensch seiner „verdienten“ Strafe entkommt, wird bewusst in Kauf genommen. Irren ist menschlich.

Der Begriff der Sühne, der in der Debatte immer wieder fiel, ist religiös konnotiert. Jeder Strafverteidiger muss bei der Verwendung solch emotional aufgeladener Begriffe sofort alarmiert sein. Ein Gesetz, das nicht viel weniger als „materielle Gerechtigkeit“ in seinem Namen trägt, ist eine Vermessenheit. Es ist kein Zufall, dass die zwischen 1933 und 1945 erlassenen Strafrechtsnormen dadurch auszeichnen, dass sie Tätertypen anstatt Taten strafrechtlich erfassen („Mörder ist, wer…“ heißt es noch immer in unserem Strafgesetz) und mit objektiven Kriterien kaum fassbare Dinge wie „Heimtücke“ oder „niedrige Beweggründe“ ausgerechnet in dieser Zeit Eingang ins Gesetz fanden. Die Frage, ob ein Beweggrund als „niedrig“ einzustufen ist, ist beinah eine Frage des persönlichen Geschmacks.

Und was ist schon „unerträglich“? Wer legt die Kriterien dafür fest?  Man darf sich bereits fragen, warum in der nunmehr verworfenen Norm (§ 362 Nr. 5 StPO) nur in Fällen von Kriegsverbrechen und Mord eine Wiederaufnahme zu Lasten eines rechtskräftig Freigesprochenen möglich sein sollte. Warum denn nicht in Fällen von Totschlag oder Kindesmissbrauchs? Wenn ich persönlich die Wahl hätte, entweder über Jahrzehnte in einem feuchten Keller eingesperrt und von meinem eigenen Vater missbraucht (Fall Joseph Fritzl, Österreich) oder aber heimtückisch im Schlaf erschossen zu werden – ich fände letzteres wohl weitaus „erträglicher“.

Selbst wenn die Norm Bestand gehabt hätte, wäre eine Verurteilung von Ismet H. im Rahmen einer Wiederaufnahme im Übrigen nicht garantiert gewesen. Die Spermaspuren sind ein Indiz, dass Ismet H. und Frederike von Möhlmann miteinander Geschlechtsverkehr hatten, als sicherer Tatnachweis für eine Verurteilung wegen Mordes taugen sie nicht. Nicht nach über vierzig Jahren.

 

Zur Person:

RA Christoph Grabitz ist Strafverteidiger und Pressesprecher der Kanzlei H/T Defensio. Er ist spezialisiert auf Sexual- und Tötungsdelikte.