von: Fachanwalt für Strafrecht Dr. Jonas Hennig
2014 habe ich meine Anwaltszulassung in Hamburg erhalten und mich zunächst allein als Strafverteidiger selbstständig gemacht. Ein winziger Büroraum als Untermieter – dafür in den Collonaden – eine 450-EUR-Kraft an meiner Seite und unendlich viele Ideen. Den Kanzleikredit habe ich sinnvoll in die erste Version unserer heutigen Homepage und weniger sinnvoll in ein Auto gesteckt. Das erste Jahr war geprägt von zahlreichen Allnightern und 100 Stunden-Wochen, viel Freude und kaum Gewinn – ich habe im ersten Jahr von meiner Dozententätigkeit gelebt.
Sieben Jahre später führe ich mit meinen Partnern 30 Mitarbeiter:innen und die damit größte Strafrechtskanzlei in Norddeutschland. Den Schritt in die Selbstständigkeit habe ich in keiner Minute bereut, obwohl ich bis zum Jahr 2021 nicht einen einzigen Totalurlaub gemacht habe.
Was ist der Unterschied zwischen Urlaub und Totalurlaub?
Anders als viele meiner Kollegen:innen habe ich seit Anbeginn meiner Selbstständigkeit weder auf echtes Reisen noch auf Urlaube verzichtet. 2020 war coronabedingt das erste Jahr meines Erwachsensendaseins, in dem ich nicht im Ausland war und ich merke wie mir die Inspiration der Ferne fehlt. Ein weiser Mensch hat einmal gesagt:
„Wir reisen nicht, um dem Leben zu entfliehen, sondern damit uns das Leben nicht entflieht.“
Doch funktioniert dieses Entfliehen nur durch Totalurlaub, also die völlige Abstinenz von Mandanten- und Kollegenkontakt? Keine Mails, keine Rückrufbitten. Kein Gar nichts.
Auf meine bisherigen Reisen war ich erreichbar für meine Kanzlei. Mehr als das. Auch in Zeiten in denen dies längst nicht mehr notwendig war, hatte ich mein Tagesgeschäft auch auf Reisen unter Kontrolle. Dank Cloud und E-Akte kann ich die Kanzlei von jedem Ort der Welt steuern, solange jemand vor Ort die mittelalterliche Praxis des Empfangsbekenntnisses bedient. Die Strafjustiz lässt sich von diesem Kuriosum (noch) nicht abbringen.
Neben dem Tagesgeschäft hatte ich auf Fernreisen immer ein Großprojekt dabei. In Thailand habe ich ein Seminar konzipiert, auf Kuba unzählige Homepagetexte für einen Relaunch geschrieben, in Kenia ein Buch zum Medizinstrafrecht verfasst und auf Bali die Verteidigung in einem Umfangsverfahren vorbereitet. Ein Album mit dem Titel „Notebook unter Palmen“ könnte ich problemlos mit Selbstporträts füllen. Diese Reisen waren noch keine direkte Form von Remote-Work. Den Großteil der Zeit habe ich nämlich das Land erkundet und nicht gearbeitet. Doch der Tag hat abzüglich Schlaf eben immer noch mindestens 16 Stunden. Ich weiß noch, wie leicht ich nach einer ganztägigen Safari durch den Tsavo-Nationalpark in Kenia abends in den Schreibflow auf der Terrasse gekommen bin. Nach einer Gerichtsverhandlung oder einem Bürotag vollkommen undenkbar.
Auch die puren Urlaustage gab es. Doch nach zwei drei Tagen Natur, Kultur oder Sonne und Strand dürstete es mich auch stets nach ein wenig intellektueller oder doch zumindest organisatorischer Herausforderung. Die dann eingeschobenen Workdays zur Bewältigung meines jeweiligen „Urlaubsprojekts“ habe ich immer als angenehme Abwechslung begriffen.
Diese Form des Reisens mit eingeschobenen „Work-Spaces“ habe ich nie als Last empfunden und es gab auch keine ökonomische oder organisatorische Notwendigkeit. Was bringt einen Menschen dazu? Es ist vermutlich eine Mischung aus Freude an der Arbeit, dem heimlichen Wunsch unverzichtbar zu sein, eine Prise Kontrollzwang aber auch die intrinsische Motivation zur Bewältigung von Projekten, für die im Arbeitsalltag zu wenig Raum ist.
Dieses Jahr wollten meine Frau und ich nach Tansania und Sansibar. Dank Corona ist es ein ähnlich exotisches Ziel geworden: Die Insel Rügen.
Ausgerechnet diesen schönen aber doch extrem reizarmen Ort habe ich mir ausgesucht, um das erste Mal in meinem Berufsleben einen sogenannten Totalurlaub zu machen. Unter Totalurlaub darf man das verstehen, was die meisten Angestellten hoffentlich unter einem ganz normalen Urlaub verstehen. Kein Tagesgeschäft und kein Großprojekt. Eben überhaupt keine im Arbeitskontext stehende Tätigkeit, außer vielleicht einer Postkarte an das Team oder einer Notfallerreichbarkeit, wenn es „brennt“.
Ich nehme das Ergebnis vorweg: Eine sehr gute Erfahrung, die ich wiederholen werde. Das nächste Mal an einem spannenderen Ort als Rügen, eine Insel die weder kulturell noch gastronomisch ein Abenteuer ist.
Die ersten beiden Tage waren wie bei jeder guten Sucht durch den Entzug geprägt. Nach zwei Tagen habe ich etwas in meinem Kalender nachgeschaut und mit einem Seitenblick, den ich mir nicht verkneifen konnte, festgestellt, dass 99 E-Mails angekommen waren.
Durchatmen. Das erste Mal in meinem Leben habe ich einen Auto-Responder eingerichtet. Mein Team ist erreichbar. Es kann nichts passieren. Außerdem bekomme ich im Schnitt 150 am Tag, also scheint sich der Urlaub langsam rumzusprechen.
Outlook habe ich danach nicht mehr geöffnet. Die innere Unruhe wich am dritten Tag.
Mit der Zeit, die ich sonst in meinem Urlauben und Reisen auf die Arbeit verwendet habe, habe ich nichts gemacht, was ich nicht auch sonst auf Reisen getan hätte: Das Land entdecken (bei Rügen ist das so eine Sache), in der Natur sein, Schwimmen, Nachdenken, Lesen, gutes Essen…Aber es blieb viel mehr Zeit für all dies. Insbesondere für das Kontemplative entsteht plötzlich Raum, der zunächst als bedrohliche Leere erscheint dann aber zum Quell für Inspiration wird.
Auf all meinen Reisen habe ich Ideen für mein Leben und meine Unternehmung, etwas was ich nicht trenne, entwickelt. Ein solch kreativer Gedankenfluss entsteht im Totalurlaub jedoch deutlich schneller und flüssiger als bei einer Fokussierung auf andere Arbeitsprojekte.
Es ist ein gutes Gefühl, ein Team und Partner zu haben, die mich vertreten, so dass ich sorglos sein kann. Es ist gut zu lernen, dass das nicht bedeutet ersetzbar zu sein. Die Abwesenheit des Tagesgeschäfts eröffnet Gedankenfreiräume, die kreative Ideen wachsen lassen und die Abstinenz eines Großprojekts führt zu einer inneren Ruhe, die gut tut.
Ich will niemanden von dieser Art des Urlaubs als einzig richtige Art überzeugen. Ganz im Gegenteil: Für mich wäre es in den letzten sieben Jahren nicht das Richtige gewesen. Es war jetzt das Richtige und ich werde es wiederholen.
Was ich zumindest jedem ans Herz legen will, probiert beides aus: Den Totalurlaub als auch das von mir bisher gelebte Konzept von Reisen mit Arbeitsanteil. Letzteres ist ein echtes Tool, um ein „Großprojekt“ zu erledigen und kann je nach Arbeitsanteil als eine Art Vorstufe zu Remote-Work gesehen werden.
Was wirklich hilft ist das Tagesgeschäft aus dem Urlaub zu verbannen. Nicht zuletzt wegen der Vorfreude, wenn man wieder einsteigt. Das Öffnen des Mailingfachs an Tag 8 und Runterarbeiten der 166 Mails war ein Genuss. Dass in einer Woche nur knapp mein Tagespensum angelandet ist, war guter Vorbereitung sowie meinem exzellenten Team und meiner hervorragenden Vertretung geschuldet. Diese Erfahrung wird helfen, wenn es nächstes Jahr drei Wochen Totalurlaub auf Korsika gibt.