von ht-strafrecht | 19. September 2023 | Defensio

Ausbeutung hinter Gittern: Bundesverfassungsgericht erklärt Gefangenenvergütung für verfassungswidrig

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ein Zwischenruf von RA Christoph Grabitz und Rechtsreferendarin Defne Akbayir

Einen Stundenlohn zwischen einem und drei Euro: So viel verdienen Gefangene, die im Gefängnis einer Arbeit nachgehen. Von diesem Hungerlohn profitieren Großkonzerne wie BMW, VW oder Miele, die Produktteile von Häftlingen anfertigen lassen. Diese Praxis läuft der Resozialisierung zuwider, hat im Juni das Bundesverfassungsgericht geurteilt. Höchste Zeit. 

 

Resozialisierung, also die Wiedereingliederung eines Verurteilten in die Gesellschaft, hat das Kernziel des Strafvollzugs zu sein, so will es unser Grundgesetz. Doch unter dem Deckmantel dieses humanistischen Anliegens findet in der Praxis des Strafvollzugs eine kaum zu ertragende Bevormundung erwachsener Menschen statt: Wir allein wissen, was gut für Dich ist – in diesem Geiste bescheidet – „mit freundlichen Grüßen, die Anstaltsleitung“ – so manchen Antrag eines Inhaftierten, sei es, wenn er hinter Gittern heiraten, das von ihm begangene Unrecht nicht einsehen oder aber einen Journalisten sprechen will. Dabei gelten die Grund- und Menschenrechte auch im Gefängnis noch fort.

Gerade dort! Das hat das Bundesverfassungsgericht in seiner wichtigen Entscheidung vom 20. Juni 2023 zur Gefangenenvergütung (Az. 2 BvR 166/16, 2 BvR 1683/17) einmal mehr betont. Die Entscheidung reiht sich ein in eine Vielzahl mutiger Entscheidungen des Gerichts, in denen es die Grundrechte von Strafgefangenen gestärkt hat. Wie zivilisiert eine Gesellschaft wirklich ist, abseits all der schönen Worte des Grundgesetzes, lässt sich daran ermessen, wie sie mit Denjenigen umgeht, die keine Lobby haben und im öffentlichen Leben unsichtbar sind, zum Beispiel mit Strafgefangenen. Unsere Justizvollzugsanstalten befinden sich zumeist draußen vor den Toren unserer Städte, zwischen Tierfriedhof, Krematorium und kommunaler Mülldeponie.

 

Worum also ging es in dem Fall?

Beschwert hatten sich zwei Häftlinge, ein lebenslänglich einsitzender Häftling aus Bayern, der in einer Druckerei arbeitete, und ein Kabelzerleger aus einer Anstalt in Nordrhein-Westfalen. Ihre Anträge auf mehr Lohn wurden von Anstalten und Gerichten unter Verweis auf die Gesetzeslage abgelehnt, die nun einmal keine höhere Entlohnung vorsehe. Arbeit tue den Häftlingen gut, hieß es von Seiten der Anstalt, vergleichbar vielleicht mit körperlicher Ertüchtigung, also Sport. Arbeit diene dem Vollzugsziel der Resozialisierung, die Entlohnung aber nicht. Sie solle dem Häftling allenfalls ein Taschengeld ermöglichen, für das er sich Süßigkeiten und Zigaretten kaufen könne. Daneben könne die Entlohnung im Einzelfalle vielleicht noch für Opferentschädigungs- sowie Unterhaltsansprüche herhalten, die die Häftlinge im Einzelfalle schuldeten. That’s it.

Diese Interpretation der Bedeutung des Arbeitslohns, die sich in den Resozialisierungskonzepten vieler Bundesländer findet, greift aus der Sicht des Bundesverfassungsgerichts zu kurz: Arbeit sei keinesfalls ein von der Entlohnung entkoppelter Selbstzweck. Einer leistungsgerechten Entlohnung käme ein für die Wiedereingliederung in die Gesellschaft fundamental wichtiger Zweck zu, der aber in den Konzepten aus Bayern und Nordrhein-Westfalen unberücksichtigt bleibe: Die Erfahrung von Belohnung und Anerkennung durch andere Menschen für getane Arbeit – und damit das Erleben von Autonomie und Selbstwirksamkeit.

Wer nie gelernt hat, dass man mit ehrlicher Arbeit ein gutes Leben führen kann, so die Argumentation, habe keinen Grund dazu, es nicht (wieder) auf die krumme Tour zu versuchen. Wessen Arbeitskraft, in staatlicher Obhut und hinter Schloss und Riegel, ausgebeutet wird, der wird – völlig zu Recht! –  kein besonders gutes Bild von dem Gemeinwesen haben, das solche Ausbeutung betreibt. Welchen Grund soll er – oder auch sie, aber das kommt weitaus seltener vor – haben, sich nach verbüßter Haft für eine solche Gemeinschaft zu engagieren? Warum sollte er sich mit ihr identifizieren?

Wem von staatlicher Seite nicht mehr zugetraut wird, als für 1,33 EUR pro Stunde Plastiktüten zu kleben, der wird nach seiner Entlassung Bürgergeld beantragen und sich vor den Fernseher zurückziehen, weil eine solche Beschäftigung den Behindertenwerkstätten in diesem Lande vorbehalten ist – und weil man zur Aufnahme in so einer Einrichtung eine Behinderung vorweisen muss, die er aber (noch) nicht vorweisen kann. Wer nie dafür gelobt worden ist, dass er etwas gut gemacht hat oder auf eine andere Art und Weise liebenswert ist, wird wiederum eher geneigt sein, die Fäuste fliegen zu lassen, jemanden umzubringen oder Dinge von bedeutendem Wert zu zerstören. Einfach weil sich ohnehin niemand interessiert. Und weil es keinen fucking Unterschied macht. Wer wie Dreck behandelt wird, verhält sich wie Dreck.

So sehr die Entscheidung im Grundsatz zu begrüßen ist: Erst einmal bleibt alles hübsch beim Alten. Das Bundesverfassungsgericht hat Bayern und NRW eine Frist bis zum 30. Juni 2025 eingeräumt, um ihre Gesetze zu ändern. Andere Bundesländer wollen ihre Resozialisierungsziele nun ebenfalls überprüfen.

Echte Eilbedürftigkeit sieht anders aus.