von ht-strafrecht | 19. Juni 2024 | Defensio

Am Beispiel der „nicht geringen Menge“: Wie sich die Justiz gegen das neue Cannabisgesetz auflehnt.

ein Blogbeitrag von Rechtsreferendar Lorenz Link

Mit Inkrafttreten des Gesetzes zum Umgang mit Konsumcannabis (KCanG) am 01.04.2024 hat der Gesetzgeber den Umgang mit Cannabis teilweise entkriminalisiert. Die Rechtsprechung setzt sich in offene Opposition mit der gesetzgeberischen Intention, wonach an der bisherigen Definition der „nicht geringen Menge“ nicht mehr festgehalten werden könne und der Grenzwert daher deutlich höher liegen müsse als in der Vergangenheit. Drei Gründe, weshalb die vom Bundesgerichtshof propagierte Definition der „nicht geringen Menge“ verfassungswidrig ist.

Kaum war das neue Gesetz in Kraft getreten, sorgte eine erste Entscheidung des 1. Strafsenats für Aufsehen. Wenig später folgten die Entscheidungen des 5. und 6. Strafsenats. Diese können nicht anders verstanden werden, als dass die Rechtsprechung dem Gesetzgeber eine Lektion erteilen will, für ein handwerklich schlechtes Gesetz.

 

Was wurde zunächst entschieden?

Hintergrund der Entscheidung des 1. Strafsenats vom 18.04.2024 (Az.: 1 StR 106/24) war der Folgende:

Die beiden Angeklagten lebten und arbeiteten als „Gärtner“ in einer Indoor-Marihuanaplantage. Diese wurde seit 2021 von einer nicht näher bekannten, überregional tätigen Bande betrieben. Die Angeklagten düngten und bewässerten die Pflanzen. Bei einer Durchsuchung im Mai 2023 fanden sich über 1.700 Cannabispflanzen mit einem Gesamtgewicht von 160 Kilogramm Marihuana und einem Wirkstoffanteil von über 22 Kilogramm THC.

 

Der Entscheidung des 5. Strafsenats vom 23.04.2024 (Az.: 5 StR 153/24) lag folgender Sachverhalt zugrunde:

Der Angeklagte sollte einen unbekannten Dritten bei dem gewinnbringenden Absatz von Cannabis unterstützt haben, indem er die Droge lagerte und nach Anweisung auslieferte. Eine Durchsuchung bracht 88 Kilogramm Haschisch sowie 154 Kilogramm Marihuana ans Tageslicht, mit einem Wirkstoffanteil von insgesamt 53 Kilogramm THC.

Anlass der Entscheidungen waren jeweils Revisionen der Angeklagten. Die angegriffenen Urteile waren dabei zur alten Rechtslage – also den Regelungen des Betäubungsmittelgesetzes (BtMG) – ergangen. In beiden Fällen hatten die jeweiligen Landgerichte wegen Beihilfe zum Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit Besitz von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge mehrjährige Haftstrafen ausgeurteilt.

 

Was änderte sich durch Inkrafttreten des KCanG?

Mit Inkrafttreten des CanG ist die Rechtslage des KCanG maßgeblich. Ist das bei der ersten Verurteilung maßgebliche Gesetz (hier: BtMG) das ungünstigere, so gilt nach § 2 Abs. 3 StGB zwingend das mildere Gesetz. Sehen zwei danach miteinander zu vergleichende Vorschriften die gleiche Strafart (z.B. Freiheitsstrafe) vor, so ist das mildere Gesetz im Sinne des § 2 Abs. 3 StGB dasjenige, dessen Strafrahmen geringer ausfällt.

Nach § 34 Abs. 1 KCanG wird mit Geldstrafe oder Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren bestraft, wer eine der in den Nummern 1 bis 16 normierten Verhaltensweisen im Zusammenhang mit Cannabis verwirklicht. In besonders schweren Fällen beträgt der Strafrahmen gem. § 34 Abs. 3 KCanG Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren. Ein besonders schwerer Fall liegt nach § 34 Abs. 3 Nr. 4 KCanG regelmäßig dann vor, wenn eine Straftat nach § 34 Abs. 1 KCanG begangen wird und sich die konkrete Handlungsform auf eine nicht geringe Menge bezieht.

Demgegenüber wird im Anwendungsbereich des BtMG nach § 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG mit Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr bestraft, wer eine der genannten Verhaltensweisen im Zusammenhang mit einer nicht geringen Menge Cannabis verwirklicht.

 

Wie haben die Strafsenate jeweils entschieden?

Die Strafsenate verwiesen die Verfahren zur Neuverhandlung an die jeweiligen Landgerichte zurück. Verbunden mit dem Hinweis, dass in beiden Fällen bei der erneuten Strafzumessung durch die Landgerichte der Strafrahmen des besonders schweren Falles nach § 34 Abs. 3 Nr. 4 KCanG zu berücksichtigen sei, weil eine nicht geringe Menge vorliege. Dies sei deswegen der Fall, weil der maßgebliche Grenzwert im Anwendungsbereich des KCanG ebenso zu bestimmen sei, wie im Fall der Anwendung des BtMG.

Nach der insofern (bis dato) etablierten Formel bestimmt sich der Grenzwert zur nicht geringen Menge nicht angesichts der reinen Gewichtsmenge, sondern anhand der darin enthaltenen Wirkstoffmenge. Der Grenzwert ist dann überschritten, wenn eine solche Wirkstoffmenge vorliegt, die einer tödlichen Dosis oder mangels entsprechender Kenntnis einem Vielfachen der gewöhnlichen Konsumeinheit entspricht. Das konkret anzusetzende Vielfache wird abhängig von der Gefährlichkeit des Suchtstoffs ermittelt. Im Fall von Cannabis handelt es sich bei dem maßgeblichen Wirkstoff um das so genannte Tetrahydrocanabinol (THC). Mangels belastbarer Erkenntnisse über die Höhe einer entsprechenden tödlichen Dosis wird im Fall von Cannabiskonsum von einer gewöhnlichen Konsumeinheit in Höhe von 15 Milligramm sowie einem Vielfachen von 500 Konsumeinheiten ausgegangen. So errechnet sich der diesbezügliche Grenzwert von 7,5 Gramm (15mg x 500) Wirkstoffmenge (THC).

Nach Ansicht der Strafsenate bestünde gerade kein Anlass dazu, von der bisherigen Auslegung abzuweichen. Mit anderen Worten: Alles sollte beim Alten bleiben.

 

Wie begründeten die Strafsenate ihre Auffassung?

Die Strafsenate stützen ihre Entscheidungen auf dieselben zwei Argumente: Da der Gesetzgeber in seiner Konzeption des KCanG den unbestimmten Begriff der nicht geringen Menge wortgleich übernommen habe, sei ein Festhalten an der bisherigen Auslegung zunächst einmal zulässig. Schließlich und vor allem gebiete die Konzeption des KCanG keine andere Auslegung. Da auch das neue Gesetz an die Gefährlichkeit des jeweiligen Suchtstoffs anknüpfe, lasse sich in den Regelungen des KCanG keine gesetzgeberische Entscheidung entnehmen, wonach der tradierte Ansatz neu zu fassen sei.

Dies ergebe sich aus dem unveränderten Regelungszweck des KCanG. Ebenso wie beim BtMG bestehe dieser im Schutz der Volksgesundheit und der körperlichen Gesundheit der Bürger:innen. Ausweislich der Präambel des KCanG handele es sich bei Cannabis um ein gefährliches Suchtmittel. Und weil der Gesetzgeber an dieser Einschätzung unverändert festhielte, ziele er mit den Regelungen des § 34 KCanG darauf ab, den Konsum möglichst zu unterbinden. Die Strafbarkeit des Umgangs mit Cannabis stelle aus Sicht des Gesetzgebers das geeignete und notwendige Mittel dar, um dem besagten Zweck zur Geltung zu verhelfen. Die Teillegalisierung bestimmter Verhaltensweisen ändere daran nichts.

Auch die Systematik des KCanG stehe einem Festhalten an dem bisherigen Grenzwert nicht entgegen. Der Umgang mit Cannabis sei nach wie vor grundsätzlich verboten, § 2 KCanG. Das KCanG enthalte nur die absolute Einschätzung der Gefährlichkeit von Cannabis, eine relative Bewertung der Gefährlichkeit stelle es erst gar nicht an. Daher bestünden von Gesetzes wegen gerade keine (weiteren) Parameter, die die Rechtsprechung bei der Bestimmung des Grenzwertes leiten würden. Daran ändere auch die Art und Weise der Teillegalisierung (Anzahl Pflanzen bzw. Besitzmenge) nichts. Zwar sei denkbar, dass der Besitz einer die Strafbarkeitsschwelle (60 Gramm) nur geringfügig überschreitenden Menge Cannabis bei durchschnittlichem Wirkstoffgehalt bereits eine nicht geringe Menge darstellen könne. Allerdings sei die Variationsbreite der Wirkstoffgehalte in der Praxis hoch. Dies habe zur Folge, dass bei niedrigerem Wirkstoffgehalt ein Anwendungsspielraum für die „normale“ Menge verbliebe. Im Übrigen enthalte das KCanG gerade keine Angaben dazu, inwiefern zwischen legalen Besitzmengen und nicht geringer Menge ein Abstand zu wahren sei.

Zuletzt führe auch die Entstehungsgeschichte des KCanG zu keiner anderen Bewertung: In seiner Gesetzesbegründung habe der Gesetzgeber zunächst einmal betont, dass auch zukünftig die Wirkstoffmenge THC maßgeblich für die Bestimmung des Grenzwerts sein solle. Die (wissenschaftliche) Einschätzung zu den gesundheitlichen Auswirkungen habe sich zu keinem Zeitpunkt geändert. Es sei also gerade nicht davon auszugehen, dass der Gesetzgeber die grundsätzliche Gefährlichkeit von Cannabis heute anders bewerte als zuvor.

 

Was missachten die Strafsenate?

Die Begründung beider Senate ist nicht haltbar und dürfte im Ergebnis verfassungswidrig sein. Indem sie an der etablierten Auslegung des Begriffs der nicht geringen Menge auch im Anwendungsbereich des KCanG festhalten, überschreiten die Strafsenate die verfassungsmäßigen Grenzen zulässiger Auslegung.

Auch und gerade im Bereich der Auslegung von Gesetzen besteht ausweislich Art. 20 Abs. 3 GG die Bindung der Rechtsprechung an Gesetz und Recht. Dieser Bindung genügt die Rechtsprechung im Fall der Anwendung und Auslegung freiheitsentziehender Gesetze nur so lange, wie sie die Grenzen vertretbarer Auslegung wahrt. Anderenfalls maßt sich die Rechtsprechung gesetzgeberische Kompetenzen an, über welche sie angesichts der Gewaltenteilung nicht verfügt. Der gesetzgeberische Wille manifestiert sich in seiner Gesetzgebung. Die Rechtsprechung hat den Sinn und Zweck der jeweiligen gesetzgeberischen Grundentscheidung zu respektieren und im Wege der Auslegung bestmöglich umzusetzen.

Zwar ist den Strafsenaten zuzugestehen, dass der Wortlaut des § 34 Abs. 3 KCanG angesichts seiner unveränderten Unbestimmtheit einem Festhalten an der etablierten Auslegung nicht entgegensteht. Daraus folgt allerdings, dass es gerade auf die weiteren Auslegungskriterien ankommt. Diesen genügen die Entscheidungen den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht. Dies in dreifacher Hinsicht:

Die Strafsenate verkennen bereits den Sinn und Zweck der Vorschrift(en) des KCanG. Zwar erkennt der Gesetzgeber die Gefahren des Cannabiskonsums weiterhin an und ist sich seiner daraus folgenden Pflicht zum Gesundheitsschutz bewusst. War dies noch der primäre Zweck der Regelungen des BtMG, so verfolgt der Gesetzgeber mit den Regelungen des KCanG jedoch einen differenzierteren Ansatz. So ziele das KCanG ferner darauf ab, die cannabisbezogene Aufklärung und Prävention zu stärken, den illegalen Markt für Cannabis einzudämmen sowie den Kinder- und Jugendschutz zu stärken. Diese Ziele formuliert der Gesetzgeber in dem Wissen, dass der derzeitige Konsum von Cannabis trotz bestehender Verbotsregelungen ansteigt. Es geht dem Gesetzgeber also gerade darum, den eindimensionalen Ansatz des BtMG durch einen mehrdimensionalen Ansatz aus Teillegalisierung und Prävention sowie Repression zu ersetzen. Dabei hat sich der Gesetzgeber mit dem KCanG dazu entschlossen, diesen mehrdimensionalen Ansatz ausschließlich im Zusammenhang mit Cannabis zu verfolgen. Aus diesem Grund verbietet es sich, die Auslegung einzelner Begriffe fortzuführen. Indem die Strafsenate genau dies tun, halten sie in verfassungswidriger Art und Weise an einer Auslegung fest, die nicht mehr mit der neuen Zwecksetzung des KCanG vereinbar ist.

Die Strafsenate verkennen auch vollkommen den Umstand, dass der geänderten Zwecksetzung die Systematik des KCanG folgt. Dies insbesondere insofern, wie der Gesetzgeber gem. § 34 Abs. 1 Nr. 1 KCanG den Besitz von bis zu 60 Gramm Cannabis bzw. drei lebenden Cannabispflanzen straffrei stellt. Diese Systematik muss im Zuge der Auslegung unbestimmter Begriffe berücksichtigt werden.

Diesem (aus verfassungsrechtlichen Gründen) zwingenden Gebot genügen die Entscheidungen der Strafsenate keinesfalls: Ein Festhalten am alten Grenzwert hätte nämlich zur Folge, dass die im Gesetz angelegte Abstufung zwischen straffreier „normaler“ und nicht geringer Menge nicht mehr existent wäre. Legt man die Sichtweise der Strafsenate zugrunde, so wäre bereits bei einer Menge von 60,1 Gramm mit durchschnittlichem Wirkstoffgehalt von 13 % die nicht geringe Menge und damit ein besonders schwerer Fall nach § 34 Abs. 3 Nr. 4 KCanG anzunehmen. Eine straffreie „normale“ Menge bestünde also faktisch nicht mehr. Dass es einer solchen Abstufung aber zwingend bedarf, ergibt sich aus dem Begriff des besonders schweren Falles. Ein solcher kommt nur in Betracht, wenn sich der Einzelfall in seiner konkreten Ausprägung vom Normalfall derart abhebt, dass ein Ausnahmestrafrahmen ausnahmsweise angemessen erscheint.

In der Gesetzesbegründung speziell des § 34 Abs. 3 Nr. 4 KCanG gibt der Gesetzgeber an, man werde angesichts der legalisierten Mengen an der bisherigen Definition der nicht geringen Menge nicht mehr festhalten können. Der betreffende Grenzwert müsse deutlich höher liegen als in der Vergangenheit.

Viel deutlicher kann der Gesetzgeber nicht zum Ausdruck bringen, was er bereits mit seiner Zwecksetzung sowie Konzeption des KCanG deutlich gemacht hat. Es ist schlichtweg nicht nachvollziehbar, weshalb sich die Rechtsprechung darüber hinwegsetzt. Die verfassungsrechtlichen Vorgaben in Bezug auf die Auslegung sind eindeutig und zwingend. Indem beide Strafsenate gegen den ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers entscheiden, greifen sie in verfassungswidriger Art und Weise in dessen alleinige Zuständigkeit ein.

 

Fazit

Die durch die Strafsenate vertretene Auffassung, an der bisherigen Auslegung festhalten und eine nicht geringe Menge auch weiterhin ab 7,5 Gramm Wirkstoffgehalt (THC) annehmen zu wollen, darf keinen Bestand haben. Der Grenzwert muss im Anwendungsbereich des KCanG neu bestimmt werden. Entgegen der Ansicht der Strafsenate hat der Gesetzgeber auch hinreichende Kriterien für eine neue zweckentsprechende und systematisch konsequente Auslegung geschaffen. Dass dem so ist und die Fortentwicklung der bisherigen Formel überdies einen gangbaren Weg darstellt, hat eindrücklich das AG Mannheim in seiner Entscheidung vom 16.04.2024 (Az.: 2 Ls 801 Js 37886/23) dargestellt und ausgeführt.

Auch diese Entscheidung wird jedoch nichts an dem Umstand ändern, dass ein Umschwenken der Rechtsprechung des BGH vorerst nicht zu erwarten ist. Da die genannten Strafsenate einhellig einer Ansicht sind, besteht keine divergierende Rechtsprechung. Nicht nur ist es damit unwahrscheinlicher, dass noch ein anderer Strafsenat „querschießt“, insbesondere fehlt es damit an der Voraussetzung für eine Befassung des Großen Senats mit dieser Frage. Im Ergebnis wird also eventuell der Gesetzgeber selbst abhelfen müssen, indem er den Grenzwert in den Gesetzeswortlaut aufnimmt.