1. August 2018

Die geplante Neuordnung der Pflichtverteidigerbestellung

Eine begrüßenswerte Initiative der Strafverteidigervereinigungen hat kürzlich ein Strategiepapier vorgestellt, in welchem es darum geht Verfahrensrechte des Beschuldigten zu stärken. Konkret soll dies dadurch geschehen, dass das Recht der Pflichtverteidigerbestellung für Beschuldigte in einem Strafverfahren einfacher und effektiver wahrgenommen werden kann.

Das Recht eines jeden Beschuldigten auf einen Verteidigerbeistand gehört zu den tragenden rechtsstaatlichen Errungenschaften und dient deshalb der Sicherung eines rechtsstaatlichen Verfahrens.

Derzeitige Praxis und Probleme

Zunächst ist mit einigen Irrtümern rund um den Begriff „Pflichtverteidiger“ aufzuräumen. Das Gesetz spricht in § 140 StPO von notwendiger Verteidigung. Die dort geregelten Fälle haben nichts mit dem Geldbeutel des Beschuldigten, sondern vor allem mit der Schwere des Vorwurfs (z.B. Vorwurf eines Verbrechens; also Mindeststarfandrohung von 1 Jahr) zu tun. In diesen Fällen ist eine anwaltliche Vertretung im Hauptverfahren zwingend. Auch heute schon hat der Beschuldigte die Möglichkeit sich wie in allen anderen Fällen auch einen Strafverteidiger selbst auszusuchen (Wahlverteidiger). Hat er noch keinen, wird er aufgefordert einen Rechtsanwalt zu wählen. Sobald dies geschehen ist sind die Voraussetzungen des § 140 StPO erfüllt. Der gewählte Verteidiger hat nun die Möglichkeit sich vom Gericht als Pflichtverteidiger beiordnen zu lassen (sog. Wahlpflichtverteidiger). Dies wird der gewählte Verteidiger übrigens im Regelfall auch bei einem wohlhabenden Mandanten tun. Vor seiner Beiordnung durch das Gericht kann sich der gewählte Verteidiger allerdings mit dem Mandanten auf ein über die Pflichtverteidigergebühren, die beim Staat abgerechnet werden, hinaus gehendes Honorar zu einigen, das der Mandant selbst zahlt. Später wird der gewählte und anschließend beigeordnete Rechtsanwalt im Verfahren  üblicherweise als Pflichtverteidiger bezeichnet, obwohl er teilweise oder überwiegend vom Mandanten bezahlt wird und vor allem von diesem selbst gewählt wurde.

Problematisch für die Wahrung von Beschuldigtenrechten sind vordergründig zwei Situationen. Erstens Fälle, in denen kein Fall der notwendigen Verteidigung vorliegt, also ein gewählter Verteidiger nicht die Möglichkeit hat sich als Pflichtverteidiger beiordnen zu lassen und gleichzeitig der Mandant den Anwalt nicht selbst bezahlen kann. Hier knüpfen die Reformvorschläge an eine Erweiterung der notwendigen Verteidigung an.

Zweitens geht es um diejenigen Fälle, in denen der Beschuldigte in den Fällen notwendiger Verteidigung trotz Aufforderung keinen Rechtsanwalt wählt. Dann ordnet das Gericht einen Rechtsanwalt als Pflichtverteidiger bei. Leider ist diese Praxis der Beiordnung bisweilen zum einen intransparent, zum anderen nährt sie immer wieder den Verdacht, es würden solche Verteidiger beigeordnet, von denen in der Hauptverhandlung wenig Widerstand zu erwarten ist. Weiterhin erfolgt die Beiordnung zu selten und in der Regel zu spät. Trotz dieser Mängel hat sich der Gesetzgeber bisher nicht an eine grundlegende Neuordnung gewagt.

Verfassungs- und europarechtliche Ausgangslage

Art. 2 I GG gewährt dem Beschuldigten im Strafverfahren das Grundrecht auf Verteidigerbeistand. Aus Art. 1 I GG ergibt sich zudem, dass ein Beschuldigter vollberechtigtes Subjekt des gegen ihn geführten Verfahrens ist. Es verbietet sich den Beschuldigten oder Angeklagten zum Objekt staatlicher Untersuchungshandlungen und Gerichtsverfahren zu machen. Der Beschuldigte muss in der Lage sein an dem gegen ihn geführten Verfahren mitzuwirken. Der in der Regel rechtsunkundige Beschuldigte ist dazu jedoch praktisch nie in der Lage. Er benötigt daher eine Verteidigung als Gegengewicht, um so für Waffengleichheit zu sorgen.

Eine im Oktober 2016 im EU-Parlament und Europäischem Rat verabschiedete Richtlinie [(EU) 2016/1919] soll „die Effektivität des […] Rechts auf Zugang zu einem Rechtsbeistand“ gewährleisten „indem verdächtigen oder beschuldigten Personen im Strafverfahren die Unterstützung eines durch die Mitgliedsstaaten finanzierten Rechtsbeistands zur Verfügung gestellt wird […]“. Da in Deutschland die Mindeststandards der Richtlinie nicht erreicht werden, ist der Gesetzgeber zum Handeln gezwungen. Die Richtlinie ist bis zum 25.Mai 2019 in nationales Recht umzusetzen.

In der sog. „Geldwäscheentscheidung“ hat das BVerfG 2004 die Rolle, die der Strafverteidigung innerhalb des Strafverfahrens zukommt konkretisiert. Es nahm dabei auch Bezug auf die erforderliche Ausgestaltung der Pflichtverteidigerbestellung. Im Sinne eines fairen, rechtsstaatlichen Verfahrens muss ein möglichst hohes Maß an „Waffengleichheit“ herrschen. Eine solche ist jedoch nur im Wege einer effektiven Strafverteidigung möglich. Diese beinhaltet, einen frühzeitigen und umfassenden Zugang sowie die freie Wahl eines Anwalts des Vertrauens.

Änderungsvorschlag 1: Frühzeitige Verteidigerbeiordnung

Bereits die Belehrungsvorschrift des § 136 StPO soll an die Richtlinie angepasst werden. Ein neu eingefügter Absatz 1 Satz 3 soll sicherstellen, dass der Beschuldigte darüber belehrt wird, dass eine Vernehmung in Fällen der notwendigen Verteidigung erst nach Wahl oder Bestellung eines Verteidigers erfolgen darf. Die vorgeschlagene Änderung beruht darauf, dass in Fällen notwendiger Verteidigung die Mitwirkung eines Verteidigers bereits vor der ersten polizeilichen Vernehmung erfolgen muss. Dies muss der Beschuldigte wissen.

Dementsprechend soll auch § 141 StPO geändert werden. Die Norm regelt unter anderem den Zeitpunkt der Bestellung des Pflichtverteidigers. Die aktuelle Gesetzeslage sieht die Pflichtverteidigerbestellung in der Regel erst zu dem Zeitpunkt vor, in welchem der Beschuldigte zur Erklärung über die Anklageschrift aufgefordert worden ist. In Umsetzung der Richtlinie soll der Zeitpunkt vorverlagert werden. Dem Beschuldigten ist – bei Vorliegen der übrigen Voraussetzungen – bereits vor der ersten Vernehmung ein Verteidiger zu bestellen.

Eine frühzeitige Beiordnung soll insbesondere verhindern, dass sich der Beschuldigte in diesem frühen Verfahrensstadium unüberlegt zum Tatvorwurf äußert. Ein späteres Abrücken von seinen ersten Angaben zur Sache, ist dem Beschuldigten kaum möglich. In der Praxis trifft dieser in solchen Fällen auf große Skepsis. Er muss für die Änderung seiner Aussage schon gute Gründe vorbringen, um damit Gehör zu finden. Schon die erheblichen Folgen der ersten Äußerung zur Sache sprechen dafür, dass der Beschuldigte dabei durch einen Verteidiger beraten sein muss, der ihn mutmaßlich raten wird mindestens bis zur Akteneinsicht von seinem Recht zu Schweigen Gebrauch zu machen.

Das geltende Recht ist hiervon weit entfernt. Zwar sieht § 141 III 2 StPO vor, dass die Staatsanwaltschaft die Beiordnung eines Verteidigers beantragt, wenn von einer notwendigen Verteidigung im Hauptverfahren auszugehen ist, also immer dann, wenn aus Sicht der Staatsanwaltschaft ein dringender Tatverdacht hinsichtlich eines Verbrechens besteht (§ 140 I Nr. 2 StPO). Jedoch gewährt der BGH den Strafverfolgungsbehörden einen weiten Spielraum dahingehend, dass die Staatsanwaltschaft mit der Beantragung der Pflichtverteidigerbestellung so lange abwartet, bis der dringende Tatverdacht durch eine weitere Vernehmung abgeklärt werden kann. Die Antragspflicht der Staatsanwaltschaft setzt zudem voraus, dass der Beschuldigte tatsächlich der Mitwirkung eines Verteidigers bedarf. Die Schwelle hierfür setzt der BGH hoch an. Eine Verteidigerbestellung vor der ersten Vernehmung im Ermittlungsverfahren ist daher eine äußerst seltene Ausnahme. Derzeit sind daher regelmäßig nur Beschuldigte, die sich frühzeitig einen Wahlverteidiger gesucht haben, effektiv verteidigt.

Änderungsvorschlag 2: Umfassende Beiordnung

Eine umfassende Beiordnung zwingt zu einer Änderung des § 140 StPO. Das geltende Recht beschränkt die notwendige Verteidigung auf die Fälle, in denen dem Beschuldigten schwerwiegende Sanktionen drohen (zum Beispiel Verbrechensvorwurf, Untersuchungshaft, erste Instanz vor dem Landgericht, Berufsverbot droht) oder dem Verletzten ein Anwalt beigeordnet werden wurde ( § 140 I Nr. 9 StPO). Ansonsten kann ein Fall notwendiger Verteidigung nur aufgrund der Generalklausel des § 140 II StPO angeordnet werden. Diesbezüglich ist die Praxis jedoch regional sehr unterschiedlich und deshalb uneinheitlich.

Eine bedeutende Änderung soll deshalb bereits in § 140 Nr. 1 StPO erfolgen. Ist eine Verteidigung bis dato nur notwendig, wenn die Hauptverhandlung vor dem Oberlandesgericht oder dem Landgericht stattfindet, soll der Anwendungsbereich auf Hauptverhandlungen vor dem Schöffengericht erweitert werden. Die Anklage beim Schöffengericht setzt nach § 24 Nr. 2 GVG die Erwartung der Staatsanwaltschaft voraus, dass eine Freiheitsstrafe  von mehr als zwei Jahren verhängt werden kann. Die Rechtsfolgenerwartung der Staatsanwaltschaft ist derart gravierend, dass ein Fall notwendiger Verteidigung vorliegt. In der Praxis ändert sich damit wenig, da nach derzeitiger Lage beim Schöffengericht entweder ein Verbrechen angeklagt ist, was jetzt schon zwingend einen Verteidiger voraussetzt oder die Generalklausel des § 140 Abs. 2 greift, der schon bei einer Straferwartung von über einem Jahr regelmäßig bejaht wird.

Eine echte Neuerung soll aber § 140 Nr. 10 StPO darstellen. Danach soll ein Fall notwendiger Verteidigung vorliegen, wenn es hinreichend wahrscheinlich ist, dass gegen den Beschuldigten eine Freiheitsstrafe oder eine Geldstrafe von mehr als 90  Tagessätzen verhängt wird. Dieser Änderung liegt die Erwägung zugrunde, dass jede strafrechtliche Verurteilung eine Stigmatisierung bedeuten kann. Insbesondere die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe ist ein intensiver Eingriff in die Lebensgestaltung des Betroffenen. Die Verteidigung ist hier notwendig, um ein ordnungsgemäßes Verfahren bei einer drohenden derart schwerwiegenden Verurteilung zu gewährleisten. Aber auch eine Geldstrafe von mehr als 90 Tagessätzen führt in der Regel zu schwerwiegenden Konsequenzen für den Betroffenen. Insbesondere führt die Verurteilung zu einer Aufnahme in das Führungszeugnis und somit zu einer Stigmatisierung für den weiteren Lebenslauf.

Eine wichtige Änderung soll auch die Einführung des § 140 Nr. 13 StPO darstellen. Danach liegt ein Fall notwendiger Verteidigung vor, wenn gegen den Angeschuldigten Antrag auf Erlass eines Strafbefehls gestellt wurde und das Gericht diesem Antrag entsprechen will. Diese Änderung rechtfertigt sich unter anderem aus der Überlegung, dass Voraussetzung für den Strafbefehl ist, dass das Gericht von einem hinreichenden Tatverdacht ausgeht. Das Gericht muss also nicht von der Schuld des Angeschuldigten überzeugt sein. Dennoch steht der rechtskräftige Strafbefehl einem rechtskräftigem Urteil gleich (§ 410 III StPO). Zwar steht dem Angeklagten die Möglichkeit offen gegen den Strafbefehl Einspruch einzulegen, tatsächlich wird jedoch lediglich gegen rund 30 Prozent der erlassenen Strafbefehle Einspruch eingelegt. Dies liegt wohl unter anderem daran, dass vom rechtsunkundigen Angeklagten die Bedeutung des Strafbefehls nicht richtig eingeschätzt wird.

Änderungsvorschlag 3: Freie Wahl des beizuordnenden Verteidigers

Eine bedeutende Änderung soll § 142 StPO erfahren. Danach soll der Beschuldigte künftig noch mehr Freiheiten bei der Auswahl seines Verteidigers haben.

Gestrichen werden soll § 142 I 2 StPO. Danach soll der Vorsitzende einen vom Beschuldigten Verteidiger bestellen, wenn kein wichtiger Grund entgegensteht. Was ein „wichtiger Grund“ im Sinne der Vorschrift ist, hat der Gesetzgeber bewusst offengelassen. Eine Auslegung dieses Rechtsbegriffs lässt im Ergebnis willkürliche Entscheidungen zu. Es gibt keine Notwendigkeit für diese Beschränkung.

Ein neu eingeführter § 142 I 3 StPO soll klarstellen, dass in gewissen Fällen dem Beschuldigten eine Mindestfrist von einer Woche zur Auswahl eines Verteidigers gewährt werden muss. Verteidigung bedeutet Vertrauen. Ein Anbahnungsgespräch zwischen Beschuldigten und Verteidiger muss deshalb vorher möglich sein.

  • 142 II StPO soll die Situation regeln, in der der Beschuldigte innerhalb der ihm gesetzten Frist keinen Verteidiger wählt. In dieser Situation konnte das Gericht bisher ohne jede Kontrolle irgendeinen Rechtsanwalt seiner Wahl bestellen. Eine „öminöse“ Pflichtverteidigerliste, von der man gerne hört, gibt es nicht. Der Richter konnte hier stets den selben Anwalt beispielsweise einen Fachanwalt für Familienrecht auswählen. Es gab schon immer einige Richter, die in dieser Situation echte Verteidiger gewählt haben aber auch zahlreiche Richter deren Auswahl sich stets auf den „braven Verteilungsbegleiter“ beschränkte.

Die Auswahl soll künftig nicht mehr dem Gericht, sondern der Rechtsanwaltskammer überlassen werden. Diese schlägt vor; das Gericht bestellt. Dann stehen Kriterien des Richters wie Routine, persönliche Bekanntschaft und die Erwartung reibungsloser Zusammenarbeit keine Rolle mehr. Im Vordergrund stünden die Interessen des Beschuldigten um eine bestmögliche Verteidigung zu gewährleisten. Diese ist über die Informationen des Strafverfahrens zu informieren um eine sachgerechte Auswahl zu treffen.

Fazit

Es bleibt abzuwarten wie der Gesetzgeber auf die Änderungsvorschläge reagiert. Das Recht eines jeden Beschuldigten auf einen Verteidigerbeistand gehört zu den grundlegenden Verfahrensrechten und ist verfassungsmäßig garantiert. Die bisher bestehenden aufgezeigten Mängel führen zu einer erheblichen Einschränkung des Grundsatzes der effektiven Verteidigung. Es ist zu hoffen, dass der Gesetzgeber die Problematik erkennt und entsprechend reagiert.

Ein Beitrag von Rechtsreferendar David Hölldobler

Kommentar von Fachanwalt für Strafrecht Dr. Hennig:

Die Vorschläge der Strafverteidigervereinigungen sind gut, aber nicht weitgehend genug. Kein Strafverfahren ohne engagierten Strafverteidiger ist fair.  Dies gilt schon für das Ermittlungsverfahren. Jeder sollte unabhängig von seinen finanziellen Möglichkeiten und unabhängig von der potentiellen Sanktion einen Rechtsanwalt wählen können. Heute ist dies abgesehen von den Fällen der notwendigen Verteidigung nur denjenigen vorbehalten, die einen Anwalt selbst bezahlen können.