von ht-strafrecht | 25. Oktober 2022 | Defensio

Das Gebot zur Neutralität der Staatsanwaltschaft gem. § 160 Abs. 2 StPO

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ein Beitrag von Rechtsreferendarin Angelique Becker

 

Wer sich strafrechtlichen Ermittlungen ausgesetzt sieht, bekommt es oft zum ersten Mal mit der Staatsanwaltschaft zu tun. Viele verfallen nun in Panik. Die wenigsten aber wissen, dass die Staatsanwaltschaft auch entlastende Umstände zu ermitteln hat. Und es ist eine der vornehmsten Aufgaben des Verteidigers, sie immer wieder aufs Neue daran zu erinnern.

 

Anklagend, unerbittlich, furchteinflößend?

In treuer Regelmäßigkeit finden sich die Deutschen sonntagabends um 20:15 Uhr vor ihren Fernsehern zusammen, um sich an Mord und Totschlag zu erfreuen. Was eine Staatsanwältin in der öffentlichen Wahrnehmung ausmacht, lässt sich daher vielleicht am besten an Staatsanwältin Wilhelmine Klemm aus dem Münsteraner Tatort illustrieren: Sonorer Bass, kettenrauchend, elegante Kleidung, ein Schlachtschiff von einer Frau, die keine Gnade bei der Aufklärung von Verbrechen kennt. Ermittlungen zu Gunsten eines Beschuldigten? Erwartet man von der sicher nicht.

 

Der gesetzliche Auftrag ist ein anderer

Eine gewisse Fixierung dieser Behörde auf die Fehler und das „Böse“ im Menschen (aus unserer Sicht sollte man diesen Begriff vermeiden) beobachten auch wir immer wieder. Nach dem gesetzlichen Auftrag ist dies aber rechtswidrig: Paragraph 160 Absatz 2 unserer Strafprozessordnung definiert in berückender Klarheit, welche Dienstleistung wir von dieser mit Steuerzahlergeldern finanzierten Behörde erwarten dürfen:

Die Staatsanwaltschaft hat nicht nur die zur Belastung, sondern auch die zur Entlastung dienenden Umstände zu ermitteln und für die Erhebung der Beweise Sorge zu tragen, deren Verlust zu besorgen ist.

Die Staatsanwaltschaft, so lernt man es im Jurastudium, ist „die Herrin des Ermittlungsverfahrens“. Damit ist gemeint, dass sie die Ermittlungsarbeit der Polizei anleitet und überwacht. Ziel ist, die Wahrheit herauszufinden. Was geschah wirklich? Eine einseitige Fixierung darauf, einen Beschuldigten anzuklagen oder „hinter Gitter“ zu bringen, wäre ein eklatanter Verstoß gegen das Recht eines jeden Beschuldigten auf ein transparentes und faires Strafverfahren.

 

Der Fall Harry Wörz

Der Fall um Harry Wörz spiegelt wider, was geschieht, wenn sich die Ermittlungsbehörden nur auf einen Verdächtigen konzentrieren. Was geschieht, wenn nicht die Tat aufgeklärt wird, sondern der Fokus daraufgelegt wird, einer Person die Tat nachzuweisen?

Dem Polizisten Harry Wörz wurde vorgeworfen, seine Ex-Frau fast zu Tode gewürgt zu haben. Der Vater des mutmaßlichen Opfers hatte allerdings gleich nach der Tat gesagt, es kämen zwei Personen in Betracht. Der Fokus wurde jedoch ausschließlich auf Herrn Wörz gelegt, warum auch immer.

In den unmittelbaren Stunden nach der Tat wurde nur das Fahrzeug von Herrn Wörz auf Restwärme überprüft, nicht aber das Fahrzeug der anderen als Täter in Betracht kommenden Person. Die Restwärme eines Motors ist ein Indiz dafür, dass ein Auto zuvor bewegt worden ist. Ein Beweis freilich nicht: Der Motor könnte auch im Stehen gelaufen sein. Alibis wurden nicht gründlich überprüft, weil man sich auf Seiten der Staatsanwaltschaft viel zu früh auf einen Beschuldigten eingeschossen hatte, Harry Wörz. Beweise, die Harry Wörz entlasten hätten können, gingen für immer verloren. Diese Ermittlung hat dazu geführt, dass er jahrelang unschuldig im Gefängnis saß und einen verzweifelten Kampf führen musste, der jedem erspart sein sollte. Der Kampf um seine Unschuld und seine Freiheit. Im Januar 1998 wurde Wörz verurteilt, im Dezember 2010 erfolgte der Freispruch. Zwölf verlorene Jahre.

 

Der Fall eines Rosenkavaliers aus der Lausitz

Auch einem Dönerbudenbesitzer aus Brandenburg wurden einseitige Ermittlungen der Staatsanwaltschaft zum Verhängnis: Der Mann hatte eine außereheliche Liebesbeziehung mit einer ebenfalls verheirateten Dame aus demselben Dorf. Anlässlich eines Schäferstündchens verstarb die Dame plötzlich. Ihr Liebhaber schämte sich offenbar so sehr, dass er sich der Polizei nicht anvertrauen konnte und entsorgte die Leiche. Weil die Staatsanwaltschaft sich ihrer Sache allzu sicher war, meldete sie keine Zweifel an einem rechtsmedizinischen Gutachten, welches die Version eines natürlichen Todes gar nicht erst ernsthaft diskutierte. Der Dönerbudenbesitzer wurde erst in zweiter Instanz vom Vorwurf des Totschlags freigesprochen. Wer mehr über diesen Justizirrtum erfahren möchte, kann das ZEIT-Dossier „Die Ehre des Rosenkavaliers“ aus der Feder unseres Strafverteidigers Christoph Grabitz lesen, der damals noch als Journalist arbeitete.

 

Was, wenn der Strafverfolger selbst straffällig wird?

Ebenso bröckelt das Bild der Staatsanwaltschaft, wenn Staatsanwält:innen selbst straffällig werden. Wie kann die Staatsanwaltschaft Rechtsstaatlichkeit garantieren, wenn ein Staatsanwalt selbst außerhalb des Rahmens bestehender Gesetze handelt? Ein früherer Oberstaatsanwalt der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt soll an einen befreundeten Unternehmer Justiz-Aufträge vergeben und dafür Geld bekommen haben. Tatvorwürfe wie Bestechlichkeit, Untreue und Steuerhinterziehung stehen im Raum.

Auslöser für die Ermittlungen war eine Anzeige der ehemaligen Lebensgefährtin des Juristen. Diese dauerten rund drei Jahre an, bis die Staatsanwaltschaft Frankfurt diesen Sommer Anklage vor dem Landgericht Frankfurt erhob. Konkret vorgeworfen werden dem Juristen Bestechlichkeit in 101 Fällen, schwere Untreue in 55 Fällen und Steuerhinterziehung in neun Fällen. Allein im nicht-verjährten Zeitraum soll er eine Summe von ca. 280.000€ erhalten haben. Das Landgericht hat nun über die Zulassung der Anklage zu entscheiden.

Doch wie oft kommt es vor, dass Juristen und Polizeibeamt:innen straffällig werden? Im Jahr 2021 haben Korruptionsdelikte und Straftaten von Amtsträgern 0,72% der insgesamt erledigten Verfahren ausgemacht. Ein Anteil, der zunächst vielleicht nicht ganz so groß erscheint. In Zahlen sieht das jedoch ganz anders aus: 35.056 von 4.879.786 Verfahren.

In diesem Zusammenhang ist ein Forschungsprojekt der Ruhr-Universität Bochum interessant, welches im Jahr 2018 begann: Das Projektteam hat die rechtswidrige Gewaltanwendung durch Polizeibeamt:innen untersucht. Hierfür hat es mittels quantitativer Opferbefragung einschlägige Viktimisierungserfahrungen erfasst und systematisiert, das Anzeigeverhalten von Betroffenen untersucht und das Verhältnis von Hell- und Dunkelfeld sowie die Struktur des Dunkelfelds in diesem Bereich analysiert. Ein Kommentar von Amnesty International zum Zwischenbericht dieses Forschungsprojekts fasst zusammen:

„Neun von zehn der befragten Betroffenen von Polizeigewalt haben laut der Studie auf eine Anzeige verzichtet, weil sie keine Hoffnung haben, dass ein Strafverfahren ihnen Gerechtigkeit bringt“, „Die Statistik gibt ihnen leider recht – mit 97 Prozent werden bundesweit fast alle Verfahren gegen Polizisten eingestellt.“

Was kann man also tun, wenn man vermutet, dass die Staatsanwaltschaft ihrem gesetzlichen Auftrag nicht nachkommt?

 

Was Strafverteidiger:innen für Sie tun können

Strafverteidiger:innen haben etliche Möglichkeiten, um Ihnen zur Seite zu stehen.

Möchte man sich gegen das persönliche Verhalten oder Maßnahmen der Staatsanwaltschaft wehren, hat man die Möglichkeit, eine Dienstaufsichtsbeschwerde einzureichen. Diese wird dann gem. § 147 GVG von der Dienstaufsicht (Dienstvorgesetzte) überprüft und entschieden.

Für einen Antrag auf Ablehnung wegen Befangenheit, wie bei Richtern gem. § 24 StPO, gibt es in der Strafprozessordnung keine gesetzliche Grundlage. Eine Auswechslung oder Ablösung ist nur im Wege der Dienstaufsicht – also über den Dienstvorgesetzten – zu erreichen. Hat ein entsprechender Antrag keinen Erfolg, gibt es noch die zuvor genannte Dienstaufsichtsbeschwerde. Hat auch diese keinen Erfolg, besteht die Möglichkeit, den Staatsanwalt als Zeugen zu benennen, um ihn von der weiteren Mitwirkung auszuschließen.

Nicht zuletzt ist es natürlich auch möglich, gegen Beamt:innen der Staatsanwaltschaft eine Strafanzeige zu erstatten. Die Folge ist dann nicht nur ein Ermittlungs-, sondern auch ein Disziplinarverfahren, mit allen für den Betroffenen sehr unangenehmen Konsequenzen.

 

Hat die Staatsanwaltschaft in Ihrem Falle Recht und Gesetz verletzt?

Ein Strafverfahren ist belastend genug. Wir stehen Ihnen als verlässlicher Partner mit Rat und Tat zur Seite. Und natürlich prüfen wir, ob die Staatsanwaltschaft sich in Ihrem Falle an die Spielregeln der Strafprozessordnung hält. Zögern Sie daher nicht, H/T Defensio zu kontaktieren. Das gesamte Team freut sich darauf, Sie dabei zu unterstützen, dass Sie zu Ihrem Recht kommen. Wir freuen uns, Sie an einem unserer Standorte – in Lüneburg, Hamburg, Kiel, Bremen, Lübeck, Dortmund, Münster, Köln, Osnabrück, Hannover, Frankfurt am Main oder auch online – begrüßen zu dürfen!