ein Blogbeitrag von Rechtsreferendar Yannic Ippolito
Wer eine Körperverletzung mit einem anderen Beteiligten gemeinschaftlich begeht, kann gemäß § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB mit Freiheitsstrafe bis zu zehn Jahren bestraft werden. Der 2. und 6. Strafsenat des BGH hatte sich jeweils mit der Frage zu beschäftigen, ob eine solche gefährliche Körperverletzung auch durch Unterlassen (§ 13 Abs. 1 StGB), also durch gemeinschaftliches Nichtstun, möglich ist. Die Antworten der beiden Senate überraschen und könnten unterschiedlicher nicht sein.
Was war passiert?
Hintergrund der Entscheidung des 2. Strafsenats des BGH vom 17. Januar 2023 (Az. 2 StR 459/21) war der Folgende:
Die beiden Angeklagten, ein Paar, bekamen ein gemeinsames und vollkommen gesundes Kind. Ihren Alltag richteten sie jedoch nicht an den Bedürfnissen des Kindes aus, sondern verfolgten eigene Interessen: Ausflüge, Wandern, Reisen. Aufgrund finanzieller Engpässe sparten sie auch an der Babynahrung. Das Kind bekam nur wenige Löffel pro Tag. Dies führte zu einer Unterernährung des Kindes und zu einem „Hungerdarm“. Eines Abends hörten die Angeklagten ein Röcheln aus dem Kinderzimmer. Sie mussten feststellen, dass das Kind reglos im Bett lag. Die alarmierten Rettungskräfte fanden ein apathisches Kind mit Atemaussetzer vor. Das Kind musste sowohl vor Ort als auch später im Krankenhaus reanimiert werden. Es überlebte knapp und kam in die Obhut einer Pflegefamilie.
Der Entscheidung des 6. Strafsenats des BGH vom 17. Mai 2023 (Az. 6 StR 275/22) lag nachfolgender – stark verkürzter und vereinfachter – Sachverhalt zugrunde:
Die zur Tatzeit 19-jährige Geschädigte litt an einer paranoiden Schizophrenie und ging der (Zwangs-)Prostitution nach. Krankheitsbedingt verhielt sie sich nicht immer situationsgerecht; sie lachte und weinte manchmal grundlos. Deswegen beabsichtigte ihr Zuhälter, sie an den Angeklagten zu „verkaufen“. Der Mitangeklagte erklärte sich bereit, den Angeklagten bei der „Übernahme“ zu unterstützen. Als es zu einer körperlichen Auseinandersetzung zwischen der Geschädigten und den beiden Angeklagten kam, verbrachten beide diese in die Garage auf ihrem Grundstück. Die Geschädigte wurde teilweise für mehrere Stunden alleingelassen. Die Angeklagten erkannten, dass die Frau aufgrund ihrer Krankheit sofortige Hilfe benötigte, entschlossen sich jedoch, keine ärztliche Hilfe zu rufen und sich selbst um ihren Zustand „zu kümmern“. An diese Vereinbarung fühlten sich beide gebunden. Die Geschädigte schrie wiederholt laut auf, nässte sich ein, übergab sich, krampfte und verstarb schließlich in der Garage.
Worin liegt die Gemeinsamkeit der beiden Sachverhalte?
Betrachtet man diese beiden Sachverhalte, fällt deren Gemeinsamkeit sofort ins Auge: Zwei Personen sind am Tatort und unterlassen es gemeinsam, einer anderen Person zu helfen. Infolge dieses Unterlassens gelangt die jeweilige Person in eine lebensbedrohliche Lage, welche im zu entscheidenden Fall des 6. Strafsenats sogar mit dem Tod der Person endete.
Was war die rechtliche Fragestellung?
Rechtlicher Aufhänger dieser beiden Konstellationen war die Frage, ob sich die Angeklagten jeweils (auch) einer gefährlichen Körperverletzung strafbar gemacht haben gemäß § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB. Hiernach macht sich strafbar, wer die Körperverletzung mit einem anderen Beteiligten gemeinschaftlich begeht.
Dass es sich bei der Unterernährung des Kindes sowie bei der Verlängerung des Leidens der Prostituierten aufgrund ihrer akuten Psychose um Körperverletzungen handelte, lag auf der Hand. Auch war klar, dass die jeweiligen Angeklagten als Beteiligte gemeinschaftlich am Tatort agierten.
Problematisch war jedoch, dass die Angeklagten die jeweilige Körperverletzung nicht durch aktives Tun, sondern durch schlichtes Unterlassen herbeigeführt haben (Unterlassen der Nahrungsgabe und Unterlassen des Rufens ärztlicher Hilfe). Deswegen stellte sich die Frage, ob die Körperverletzung mit einem anderen Beteiligten gemeinschaftlich auch durch Unterlassen begangen werden kann.
Brisant war diese Frage deswegen, weil sie bis dato höchstrichterlich noch nicht entschieden worden war.
Was war das Problem bei der Unterlassungsstrafbarkeit?
Nach § 13 Abs. 1 StGB macht sich strafbar, wer es trotz rechtlicher Verpflichtung (Garantenstellung) unterlässt, einen tatbestandlichen Erfolg abzuwenden und wenn das Unterlassen der Verwirklichung des Tatbestandes durch ein Tun entspricht (sog. Entsprechungsklausel).
Dass die Eltern eines Kindes verpflichtet sind, Körperverletzungen vom Kind abzuwenden, ergibt sich aus ihrer (Beschützer-)Garantenstellung als Eltern kraft Gesetzes gemäß § 1626 Abs. 1 BGB. Dass die beiden anderen Angeklagten für das Wohl der 19-järigen Geschädigten Garanten waren, ergab sich zumindest aus dem vorherigen Verbringen in die Garage (pflichtwidriges Vorverhalten/Ingerenz).
Vielmehr war die Entsprechungsklausel hier das Problem. Diese verlangt nämlich, dass das Unterlassen dem sozialen Sinngehalt des jeweiligen – unter Strafe gestellten – Tuns entspricht. Demnach muss sich im schlichten Unterlassen derselbe verwerfliche Handlungsunwert widerspiegeln, wie bei einem entsprechenden aktiven Tun.
Ob dies im Fall einer gefährlichen Körperverletzung nach § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB durch Unterlassen möglich ist, wurde überraschenderweise von den beiden Strafsenaten des BGH unterschiedlich beantwortet.
Wie haben die beiden Strafsenate das Problem gelöst?
Der 2. Strafsenat des BGH verneint und der 6. Strafsenat bejaht die Frage, ob eine gefährliche Körperverletzung nach § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB durch Unterlassen begangen werden kann.
Einigkeit bestand bei beiden Senaten noch im Ausgangspunkt beim Strafrund der gefährlichen Körperverletzung nach § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB:
Der Grund für das im Vergleich zur „einfachen“ Körperverletzung (§ 223 Abs. 1 StGB) verdoppelte Strafhöchstmaß (10 statt 5 Jahre Freiheitsstrafe) resultiere aus der durch mehrere Beteiligte am Tatort geschaffenen besonderen Gefahr für das Opfer. In derartigen Konstellationen werde das Opfer mit einer Übermacht konfrontiert, so dass es psychisch oder physisch in seiner Abwehr- oder Fluchtmöglichkeit beeinträchtigt werde; es bestehe eine erhöhte abstrakte Gefährlichkeit der Körperverletzung.
Im weiteren Verlauf divergieren die beiden Senate allerdings in ihrer Argumentation, die jeweils von der teleologischen Auslegung, also der Frage nach dem Sinn und Zweck des § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB, getragen wird.
Die Begründung des 2. Strafsenats
Unter Bezugnahme auf die ständige Rechtsprechung, dass die bloße passive Anwesenheit eines Beteiligten am Tatort neben einem aktiv Handelnden für die Erfüllung des § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB nicht ausreicht, folgert der 2. Strafsenat, dass die Untätigkeit eines weiteren Garanten erst recht nicht zur Erfüllung des Tatbestandes führt. Die bloße Anwesenheit von Personen, die passiv bleiben, rechtfertige die erhöhte Strafandrohung des § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB nicht. Das Unterlassen entspräche nicht einer Verwirklichung durch ein Tun.
Die Begründung des 6. Strafsenats
Der 6. Strafsenat führt dagegen aus, dass die für das Opfer erhöhte abstrakte Gefährlichkeit der Körperverletzung gemäß § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB auch bei einer Tatbegehung durch Unterlassen vorläge. Denn die erhöhte Gefahr erheblicher Verletzungen bzw. die Einschränkung von Verteidigungsmöglichkeiten bestünde auch dann, wenn sich die zur Hilfeleistung verpflichteten Garanten ausdrücklich oder konkludent zu einem Nichtstun verabreden und am Tatort anwesend sind.
Diese Verbundenheit der Garanten verstärke den Entschluss wechselseitig, die gebotene Hilfe zu unterlassen, was zusätzlich zu dem gefahrsteigernden gruppendynamischen Effekt die Wahrscheinlichkeit verringere, dass ein Garant seiner Verpflichtung – die Abwendung der Körperverletzung – gerecht werde.
Bewertung: welcher Senat hat seine Sache “besser” gemacht?
Führt man beide Entscheidungen der Senate einer Bewertung zu, gebührt derjenigen des 2. Strafsenats im Grundsatz der Vorzug. Eine Bestrafung wegen gefährlicher Körperverletzung durch Unterlassen gemäß §§ 224 Abs. 1 Nr. 4, 13 Abs. 1 StGB dürfte an der Entsprechungsklausel scheitern.
Die teleologische Auslegung als Schlüssel zur Lösung
Beiden Entscheidungen ist darin beizupflichten, dass die teleologische Auslegung des § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB der Schlüssel dafür ist, ob eine Tatbegehung zweier Garanten durch gemeinschaftliches Nichtstun möglich ist respektive einer Begehung durch aktives Tun entspricht.
Wie beide Strafsenate zutreffend erkennen, wird die hohe Straferwartung des § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB als Qualifikationstatbestand im Vergleich zur „einfachen“ Körperverletzung dadurch gerechtfertigt, dass sich das Opfer mehrerer am Tatort handelnder Personen gegenübersieht, wodurch das zu schützende Rechtsgut – die körperliche Unversehrtheit – einer deutlich höheren abstrakten Gefahr ausgesetzt ist. Denn: Je mehr Angreifer dem Opfer gegenüberstehen, desto erheblicher sind die drohenden Verletzungen.
Damit lässt sich festhalten:
Eine Pönalisierung nach § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB erfordert die abstrakte Gefahr einer intensiveren Verletzung des Rechtsguts der körperlichen Integrität aufgrund einer verschlechterten Gesamtlage des Opfers durch mehrere Beteiligte am Tatort. Begründen dagegen mehrere Beteiligte am Tatort keinerlei erhöhte abstrakte Gefahr für das Rechtsgut und damit keinerlei Verschlechterung der Gesamtlage des Opfers, muss eine Strafbarkeit nach § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB ausscheiden – egal, ob ein Tun oder Unterlassen im Raum steht.
Übertragung dieser Grundsätze
Überträgt man diese Grundsätze auf den Fall des Unterlassens zweier Garanten am Tatort, lässt sich herausarbeiten, dass infolge dieses gemeinschaftlichen Nichtstuns regelmäßig keinerlei erhöhte abstrakte Gefahr für das Rechtsgut der körperlichen Integrität des Opfers oder eine Verschlechterung seiner Gesamtlage zu verzeichnen ist.
Das gemeinschaftliche Unterlassen spiegelt deswegen nicht den Handlungsunwert des aktiven Tuns in § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB wider, was jedoch wegen der Entsprechungsklausel in § 13 Abs. 1 StGB Voraussetzung für eine Bestrafung ist.
Denn ob ein zweiter Garant die gebotene Pflicht zu Abwendung des tatbestandlichen Erfolgs unterlässt, intensiviert nicht die drohende Rechtsgutsverletzung beim Opfer; auch werden hierdurch nicht dessen Flucht- oder Abwehrmöglichkeiten geschmälert. Vielmehr wird die Gesamtlage des Opfers, die bereits durch das Unterlassen des ersten Garanten begründet wurde, konserviert.
Für die Intensität der Körperverletzung beim Opfer ist es unbedeutend, wie viele Garanten es unterlassen, die Körperverletzung zu verhindern.
Kritik an der Begründung des 6. Strafsenats
Hieran vermag auch die vom 6. Strafsenat des BGH in den Blick geführte wechselseitig verstärkte gruppendynamische Bindung an die Vereinbarung beider Garanten, untätig zu bleiben, nichts zu ändern.
Keine Ausrichtung am Strafgrund
Denn im Rahmen des § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB ist Strafgrund nicht die Erhöhung der Wahrscheinlichkeit der Tatbegehung, sondern die Intensivierung der Rechtsgutsgefährdung.
Strafgrund ist nicht, dass überhaupt eine Körperverletzung droht – dieses Handlungsunrecht wird bereits von der „einfachen“ Körperverletzung erfasst –, sondern, ob eine intensivere Körperverletzung aufgrund des gemeinschaftlichen Zusammenwirkens mehrerer Personen droht.
Hierbei verkennt der 6. Strafsenat, dass es gerade Natur einer jeden Vereinbarung ist, dass diese eine gruppendynamische Bindungswirkung entfaltet und sich im äußeren Verhalten der verabredeten Personen manifestiert – diese also die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass sich entsprechend der Abrede verhalten wird. Die hierdurch resultierende abstrakte Gefahr der erhöhten Wahrscheinlichkeit der Tatbegehung ist aber – wie bereits ausgeführt – gerade nicht Strafgrund des § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB.
Insoweit richtet der 6. Strafsenat seine Begründung nicht am maßgeblichen Strafgrund der gefährlichen Körperverletzung aus.
Bedenkliche Ausdehnung der Strafbarkeit als Folge
Des Weiteren würde ein derartiges Verständnis wie das des 6. Strafsenats zu einer höchst bedenklichen Ausdehnung der Strafbarkeit selbst in den Fällen führen, in denen die Rechtsprechung eine Strafbarkeit nach § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB strikt ablehnt.
Wäre tatsächlich die abstrakte Gefahr der erhöhten Wahrscheinlichkeit der Tatbegehung entscheidender Maßstab für eine Bestrafung, müsste nicht nur der passiv am Tatort anwesende Gehilfe, sondern sogar der nicht am Tatort anwesende Anstifter eine Verurteilung gemäß § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB begründen können.
Denn auch der nur passiv anwesende Gehilfe bestärkt und bindet schließlich den Täter in seinem Entschluss, die Tat zu begehen; der Anstifter ruft sogar den Tatentschluss des Täters zur Tatbegehung hervor und hält diesen bis zur Erfüllung des Tatbestandes durch die Abrede aufrecht. Damit erhöhen sowohl der am Tatort passiv bleibende Gehilfe als auch der nicht am Tatort anwesende Anstifter die abstrakte Gefahr der Tatbegehung durch den Täter.
Ein derartiges Verständnis lässt sich jedoch mit dem Strafgrund der gefährlichen Körperverletzung nicht in Einklang bringen und wird – zu Recht – in ständiger Rechtsprechung abgelehnt.
Fazit
Im Ergebnis gebührt der Entscheidung des 2. Strafsenats der Vorzug. Ausgehend vom Strafgrund des § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB wird die Konstruktion einer gefährlichen Körperverletzung durch Unterlassen regelmäßig abzulehnen sein. Gemeinschaftliches Nichtstun rechtfertigt keine „zehn Jahre Gefängnis“.
Im Übrigen muss konstatiert werden, dass es im Sinne der Rechtssicherheit und Rechtseinheit geradezu tragisch ist, dass zwei Strafsenate solch divergierende Entscheidungen erlassen haben. Abhilfe vermag in Zukunft nur eine Divergenzvorlage durch einen Strafsenat des OLG (§ 121 Abs. 2 Nr. 1 GVG) oder durch einen Strafsenat des BGH (§ 132 Abs. 3 S. 1, Abs. 2 GVG) zu schaffen.
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